Todesschrei
22.15 Uhr
Daniel starrte blind auf den Hotelfernseher, in dem CNN lief, als sein Handy klingelte. »Luke? Wo bist du gewesen?«
»Fische fangen«, erwiderte Luke prompt. »Das macht man gewöhnlich, wenn man Angeln geht. Ich habe deine SMS gerade erst gesehen. Was ist los? Und wo bist du?« »In Philadelphia. Hör mal, ich habe heute Morgen, nachdem du weg warst, einen Memorystick gefunden. Ich habe ihn in meinen Laptop gestöpselt, konnte aber nur eine Liste von Dateien sehen, die alle mit PST endeten.« »Das sind E-Mail-Dateien. Wahrscheinlich sind das die Back-up-Dateien, die dein Vater vor dem Löschen im November gemacht hat.«
Daniel zog den Memorystick aus seiner Tasche. »Und wie kann ich sehen, was drauf ist?«
»Steck ihn noch einmal in deinen Rechner. Ich leite dich an. Das ist nicht schwer.«
Daniel tat, was Luke ihm auftrug, und blickte einen Moment später auf die E-Mails seines Vaters. »Ich hab' sie.« Und zwar aus mehreren Jahren. Aber Daniel wollte genauso ungern, dass Luke den Inhalt dieser Mails kannte, wie er gewollt hatte, dass Frank Loomis von dem geheimen Safe seines Vaters erfuhr. »Ich muss die erst einmal durchsehen. Danke, Luke.«
Daniel brauchte nur wenige Minuten, um die E-Mail zu finden, die sein Herz aussetzen ließ. Sie kam von »Runner-Girl« und war vom Juli des vergangenen Jahres. Dort stand nur: »Ich weiß, was Ihr Sohn getan hat.« Daniel zwang sich zu atmen, zu denken. Das war nicht gut. Ganz und gar nicht gut.
Dienstag, 16. Januar, 00.45 Uhr
Das war verdammt gut. Auf seinem Computerschirm kämpfte der Inquisitor mit seinem Gegner, dem Guten Ritter. Beide Figuren hielten ihr Schwert in der einen, den Morgenstern in der anderen Hand. Jeder Schritt war geschmeidig, jeder Schwerthieb oder Schwung eine absolut realistische Darstellung von Werkzeug- und Muskelbewegung. Ein Meisterwerk.
Van Zandt würde entzückt sein. Bald schon würden Tausende auf der ganzen Welt Schlange stehen, um das Spiel erleben zu dürfen. Van Zandt betrachtete ihn als Animationsgenie, aber er selbst vergaß nie, dass diese Animationen nur Mittel zum Zweck waren. Das Ziel war es, seine Bilder in den besten Galerien dieser Welt zu sehen, in den Galerien, die ihn bisher ausnahmslos abgelehnt hatten. Er hob den Blick zum siebten Gemälde der
Warren-stirbt-
Serie. Zu dem Augenblick, in dem Warren Keyes zu existieren aufgehört hatte. Vielleicht hatten die Galeristen recht gehabt. Seine Arbeiten vor Claire und Warren und all den anderen waren eher gewöhnlich gewesen. Austauschbar. Aber diese hier - Warren, Claire, Brittany, Bill Melville, dessen Schädel durch den Morgenstern abrasiert worden war -, das waren geniale Werke.
Er stand auf und streckte sich. Er musste schlafen. Er hatte morgen eine lange Fahrt vor sich. Er wollte um neun in Van Zandts Büro sein, um Mittag wieder das Büro verlassen haben. Dadurch würde er genug Zeit haben, seinen Termin mit Mr. Gregory Sanders einzuhalten. Bis Mitternacht würde er
Gregory stirbt
auf Leinwand gebannt und einen ganz neuen Schrei haben.
Er machte ein paar steife Schritte und rieb sich seinen rechten Schenkel. Dieses alte Haus war enorm zugig. Er hatte es wegen seiner einsamen Lage ausgewählt, und weil es ... einfach zu »erwerben« gewesen war, aber jeder Windstoß schien seinen Weg hinein zu finden. Philadelphia im Winter war die Hölle, und er sehnte sich plötzlich nach Magnolien und Pfirsichblüten. Er biss die Zähne zusammen. Er war viel zu lange von zu Hause fort gewesen, aber das würde sich nun ändern. Die Macht des alten Mannes über ihn war gebrochen.
Er lachte in sich hinein. Und der alte Mann gleich mit. Gebrochen. Er ging zu seinem Bett auf der anderen Seite des Ateliers, setzte sich auf die Matratze und blickte auf das Schaubild an der Wand. Auf den Karton, auf den er das Raster gezeichnet hatte. Vier mal vier. Sechzehn Kästchen, neun davon versehen mit einem Standbild des Opfers im Augenblick des Todes. Nun ja, eines war das Foto eines Gemäldes. Er hatte die Strangulation von Claire Reynolds nicht gefilmt, aber Augenblicke nach ihrem Tod hatte er
Claire stirbt
geschaffen und erkannt, dass sein Leben sich unwiederbringlich verändert hatte. Und in den Tagen danach hatte er diesen Moment - der Moment, in dem er ihre Existenz beendet hatte - wieder und wieder Revue passieren lassen.
Damals hatte er davon geträumt, es wieder zu tun, und damals hatte er auch begonnen, sich einen Plan auszudenken, den er nun nahezu perfekt in die
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