Todesspur
Gesicht.
»Das würde er, wenn es nach seiner Mutter gegangen wäre. Aber Julian hatte wohl was dagegen.«
»Haben Ihre Nachbarn Urlaub?«, fragt Oda und fügt in Gedanken hinzu: Oder warum scharren sie im Garten herum, wenn normale Menschen arbeiten müssen?
»Olivia arbeitet in einer Stadtteilbibliothek, die hat montags zu, und Julian ist Professor für Informatik an der Leibniz-Uni. Das Semester fängt erst nächste Woche an. Aber wollen Sie sich nicht setzen?« Frau Döhring deutet auf die Couchlandschaft aus cremefarbenem Leder, die selbst in diesem großzügigen Raum riesig wirkt.
Völxen lehnt ab. Er hat Angst, dass er, einmal auf diesem Sitzmöbel gestrandet, nicht wieder in die Höhe kommt. Sein Kreuz tut ihm weh, er hat am Wochenende den Schafstall wärmegedämmt, was sich als üble Plackerei entpuppte. Er bittet Constanze Döhring um die Erlaubnis, Olafs Zimmer sehen zu dürfen.
»Nach oben, die rechte Tür. Entschuldigen Sie, wenn ich nicht mitkomme. Ich … ich schaffe das noch nicht.« Während der letzten Minuten wirkte Frau Döhring sehr beherrscht, aber nun bricht der Schmerz um ihren Sohn wieder durch.
Den Ermittlern ist ganz recht, dass sie unten bleibt. So kann man sich ungestört umsehen.
Olafs Zimmer misst an die vierzig Quadratmeter, und man findet hier keine IKEA -Möbel, sondern maßangefertigte Einbauschränke aus Kirschholz unter der Dachschräge. An den sandfarben gestrichenen Wänden hängen Poster von Rugbyspielern und Konzertplakate. Die Namen der Bands sagen Völxen gar nichts, und auch Oda kennt nur die Red Hot Chilli Peppers . Für das Zimmer eines Teenagers ist der Raum recht ordentlich aufgeräumt, lediglich ein paar Kleidungsstücke liegen über dem breiten Bett mit dem knallroten Überzug. Eine hölzerne Weinkiste – Barolo – ist mit Hanteln und Gewichtsscheiben gefüllt. Der Korkboden wird von einem gestreiften Wollteppich bedeckt, der bereits ein paar Flecken und ein kleines Brandloch abbekommen hat. Offenbar wurde hier auch schon gefeiert. Neben der Tastatur liegen eine mathematische Formelsammlung und ein Spielplan des VfR 06 Döhren auf dem Schreibtisch. Oda kriecht unter das Möbel und stöpselt den Rechner ab, während Völxen den Inhalt des Regals betrachtet, das die Wand zwischen Tür und Bett einnimmt. Oben finden sich Relikte aus Olafs Kindheit: Stofftiere, Spielautos und Bilderbücher. Der ältere Olaf schien Mangas zu mögen und Stephen-King-Romane. Die meisten Computerspiele sind Ego-Shooter, die eigentlich erst ab 18 Jahren freigegeben sind, und auch seine Filmsammlung trifft nicht unbedingt Völxens Geschmack. » Planet Terror, The Toolbox Murders, Dawn of the Dead, The Hills Have Eyes, 28 Days Later, Halloween … Schrecklich, womit sich die Jugend heutzutage so entspannt. Ich hatte schon nach Hitchcocks Die Vögel wochenlang Albträume.«
»Ich habe mir in dem Alter Psycho und Shining angesehen. Und natürlich Rosemarys Baby vom alten Polanski, wunderbar gruselig.« Oda ergeht sich in einem wohligen Schauder und erinnert sich: »Nach Chucky, die Mörderpuppe , habe ich alle meine Puppen weggesperrt. Aber an Halloween werden Veronika und ich uns wieder sämtliche Gruselschocker des Spätprogramms reinziehen. Überhaupt, was wäre Halloween ohne ein schönes Gemetzel von Michael Myers … «
Hauptkommissar Völxen sieht seine langjährige Kollegin voller Entsetzen an: »Du als studierte Psychologin mutest deiner Tochter solchen Schwachsinn zu? Von dir selbst ganz zu schweigen … «
Oda widerspricht: »Horrorfilme gehören zum Erwachsenwerden wie Pickel. Es geht um das kontrollierte Spiel mit der Angst. Denn eigentlich ist Angst positiv, sie schärft die Sinne, motiviert und beflügelt, setzt Stresshormone frei. Nach durchlebter Angst, wenn im Film die Ordnung wiederhergestellt ist, kehrt man gestärkt in den Alltag zurück.«
»Hm«, macht Völxen zweifelnd.
»Denk an die Märchen, wie grausig die immer schon waren. Und existieren Geisterbahnen nicht schon, seit es Jahrmärkte gibt?«
»Da bin ich auch nur ein Mal rein«, wirft Völxen ein. »Das war mir zu albern.«
Oda ist in ihrem Element: »In einer Gesellschaft, die für die meisten Menschen keine realen Bedrohungen mehr kennt, ist es ganz legitim, sich künstliche Inseln kleiner Ängste zu schaffen. Deshalb machen Leute Bungeejumping, Freeclimbing, S-Bahn-Surfen oder heizen wie irre mit dem Motorrad durch die Gegend. ›Furcht gibt Sicherheit‹, heißt es übrigens schon bei
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