Todesspur
Oda ein.
Ruben fragt: »Was hat das mit Olaf zu tun?«
»Nichts. Ich finde nur, Sie hätten es schlechter treffen können, als in einer Villa in Waldhausen aufzuwachsen.«
Ruben zuckt die Achseln. »Ein Kind aus so einem Scheißland wie Rumänien adoptieren – das macht man doch erst, wenn alles andere nichts gebracht hat, oder?«
»Fühlen Sie sich so? Zweitklassig?«
»Ich mich nicht. Aber für die bin ich es schon. Ich wette, sie bedauern, dass es Olaf getroffen hat und nicht mich.«
Sein Selbstmitleid beginnt Oda anzuöden. »Mag sein«, sagt sie. »Gab es Gründe, warum Sie sich nach Olafs Geburt zurückgesetzt fühlten? Bekamen Sie weniger Spielzeug, weniger Liebe, weniger Aufmerksamkeit?«
»Nein. Sie haben sich sehr bemüht, dass es ›gerecht‹ zugeht. Das ist ihr Lieblingswort: gerecht. Aber man hat es in ihren Augen gesehen: Die Art, wie sie ihren kleinen Prinzen Olaf angesehen haben – so haben sie mich nie angesehen, so stolz und gerührt. Blut ist eben doch dicker als Wasser. Und dabei hat er es gar nicht verdient, diese linke Ratte!«
»Inwiefern war Olaf eine ›linke Ratte‹?«
Ruben schnaubt erbost: »Der war so raffiniert! Wenn er was anstellte, hat er es immer geschafft, dass ich es in die Schuhe geschoben bekam. Wenn er vom Rad gefallen ist, hat er behauptet, ich hätte ihn geschubst. Er hat sich in den Finger gebissen und dann behauptet, ich wäre es gewesen. Oder er hat mich wirklich so lange gereizt, bis ich ausgerastet bin. Und wenn ich ihm dann wirklich mal eine geklebt habe, dann hat er gebrüllt wie am Spieß, als hätte ich ihn umbringen wollen.«
»Und? Wollten Sie?«, fragt Oda.
»Was?«
»Na, ihn umbringen, den kleinen Lügner, den hinterhältigen.«
»Als Kind schon ab und zu«, gibt Ruben zu.
»Sie hassten ihn also.«
»Ja, manchmal. Aber mehr noch Constanze, die immer auf ihn reinfiel, die immer ihm geglaubt hat, nie mir.«
Oda runzelt die Stirn. »Gut, aber es war nicht immer Olaf. Sie sind bei der Staatsanwaltschaft aktenkundig: Da hätten wir im Angebot: Körperverletzung, Besitz von Betäubungsmitteln, Vandalismus … Und da war doch noch die kleine Spritztour im Auto Ihres Vaters, die an einem fremden Gartenzaun endete … «
»Sie haben Ihre Hausaufgaben aber gründlich gemacht«, bemerkt Ruben zynisch. »Ja, ich hab auch manchmal Scheiße gebaut, klar. Aber ich habe es nie auf andere geschoben.«
»Verstehe. Und später, als Sie älter waren, wollten Sie Ihren Bruder da immer noch umbringen?«
»Ich wollte ihn nie umbringen … «
»Aber das haben Sie doch eben zugegeben.«
»Nein, habe ich nicht. Ich war halt nur manchmal wütend auf ihn. Später hat sich das gelegt. Ich habe ihn langsam durchschaut und mich nicht mehr so leicht reinlegen lassen. Ich bin ihm, so gut es ging, aus dem Weg gegangen.«
»Aber nicht gestern Abend«, stellt Oda mit schneidender Stimme fest: »Da konnten Sie ihm nicht aus dem Weg gehen, und Ihre Eltern waren auch nicht da … Was war los? Ein dummer Spruch von Olaf? Krach ums Fernsehprogramm? Hat er die letzte Pizza rausgenommen, die eigentlich Sie haben wollten?«
»Was? Nein!«
»Der berühmte nichtige Anlass, der dann eskaliert? Aber dieses Mal war ein Mal zu viel. Jahrelang haben Sie sich schikanieren lassen, jahrelang haben Sie sich wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Ohne Olaf wären Sie der Prinz gewesen. Ein Import-Prinz vielleicht, aber ein Prinz. Doch durch Olafs Geburt wurde Ihr vermeintlicher Makel erst riesengroß.«
Olaf schüttelt den Kopf und verzieht spöttisch den Mund. »Was soll das hier werden? Eine Psychoanalyse? Wo ist die Couch?«
Oda beantwortet seinen Einwurf nicht. »Und gestern hat es Ihnen gereicht, gestern haben Sie sich endlich mal gewehrt gegen diese linke Ratte . War es nicht so?« Sie hat sich über den Tisch gebeugt, ihr Blick durchbohrt den jungen Mann, der jetzt protestierend die Hand hebt.
»Nein. Das ist doch totaler Quatsch. Es war so, wie ich es Ihnen gesagt habe. Es lief alles ganz cool ab.«
»Was? Was lief ›cool‹ ab?«
»Der Abend. Es gab keinen Streit. Ich hab ihm nichts getan.« Ruben lässt ein paar Augenblicke verstreichen, ehe er kurz auflacht und meint: »Das werden Sie mir jetzt zwar nicht glauben, aber komischerweise haben wir uns in letzter Zeit sogar ganz gut verstanden. Seit ich ausgezogen bin. Wir chatteten manchmal, und ich war sogar mal auf so einem Konzert von seiner Band. War ganz cool.«
Völxens Magen knurrt. Er räuspert sich, um das
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