Todesspur
ihnen gesprochen hat, war ihr derselbe Gedanke gekommen. Sie hat nochmals in ihren Notizen nachgelesen, welche Alibis Fiona Kück und Gwen Fischer angegeben haben. Fernsehen mit der Familie – Fiona. Das lässt sich leicht nachprüfen. Gwen Fischer – lernen in ihrem Zimmer.
»Vor allen Dingen würde ich gern mit Gwen, der jüngeren, reden. Die andere erschien mir etwas dickfelliger«, meint Jule.
Oda schätzt an Jule, dass sie rasch kapiert und Ratschläge annehmen kann, ohne beleidigt zu sein. Zumindest von ihr. »Gwen … Olafs Mutter hat diesen Namen erwähnt. Sie war wohl ab und zu bei Olaf zu Hause.«
»Jetzt sofort?«, fragt Jule.
»Nein, morgen. Völxen und ich müssen ja noch Ruben Döhring in die Zange nehmen, das kann dauern. Mach doch Feierabend.«
»Ja, gleich. Sag mal, findest du auch, dass der neue Staatsanwalt ein Riesenarschloch ist?«
Oda grinst nur.
»Was gibt es da zu grinsen?«, fragt Jule.
»Nichts. Ich find ihn ganz niedlich.«
»Niedlich? Den?« Ein paar Töne aus Chopins Klavierkonzert Nr. 1 in e-Moll beendet die Unterhaltung. Jule fischt ihr Handy aus der Tasche. Sie ahnt, weshalb ihre Mutter anruft. Einen Moment lang ist sie versucht, den Anruf wegzudrücken, andererseits wird sie hier, im Dienst, eher eine Ausrede finden, um das Gespräch kurz zu halten. »Meine Mutter«, seufzt sie, und Oda verlässt mit halb mitfühlendem, halb schadenfrohem Lächeln das Büro.
»Hast du es schon gehört?«
»Ja, Mama.«
»Und? Was sagst du dazu?«
»Es war vorauszusehen.«
»Dieser eitle alte Idiot! Nicht nur, dass es gewissenlos ist, in seinem Alter noch ein Kind in die Welt zu setzen, aber ich wette, der hat nicht ein einziges Mal daran gedacht, wie du und ich uns dabei fühlen!«
»Wenigstens sorgt er dafür, dass meine Pension gesichert ist«, wagt Jule einen schwachen Scherz, aber Cordula Wedekin ist nicht nach Scherzen.
»Garantiert hat ihn diese Schlampe reingelegt. Mir könnte das ja egal sein, aber ist dir klar, Alexa, dass dieser Bastard auch noch erbberechtigt ist, ist dir das klar? Ich habe schon Dr. Vockenstedt angerufen, man muss sehen, was man da noch retten kann, Gott sei Dank haben wir den Besitz vor der Scheidung aufgeteilt und alles vertraglich geregelt, sonst hätte der Bankert womöglich noch das Geld geerbt, das von meiner Mutter stammt … «
Jule hält das Telefon einen halben Meter von ihrem Ohr weg, während Cordula Wedekin Gift und Galle spuckt. Jule ist offenbar die Einzige, bei der sie sich aussprechen kann. Oder will sie nur wissen, auf welcher Seite ihre Tochter steht?
»Er hat mich eingeladen«, sagt Jule, als ihre Mutter endlich einmal Luft holt.
»Zu was? Zur Hochzeit? Du wirst doch nicht etwa hingehen, oder? Das wirst du doch nicht?« Ihr Stimme überschlägt sich. Der Schmerz über das Zerbrechen ihrer Ehe nach über dreißig Jahren sitzt tief, darüber helfen auch Affären mit jungen Golflehrern nicht hinweg.
»Er ist mein Vater.« Mich hat er ja nicht verlassen, fügt Jule in Gedanken hinzu, obwohl sie sein Verhalten missbilligt und ihr Verhältnis seither etwas abgekühlt ist. Sie treffen sich nur noch ab und zu auf einen Kaffee oder ein Glas Wein in der Stadt. In seiner Wohnung im Zooviertel, die er mit der neuen Lebensgefährtin teilt, war Jule nur ein einziges Mal, und selbst dazu brauchte es mehrere Anläufe. Über mangelnde Loyalität kann sich meine Mutter also wirklich nicht beklagen! Würden mich doch alle beide mit ihrem chaotischen Privatleben in Ruhe lassen!
»Ich muss jetzt Schluss machen, Mama, ich muss in ein Meeting. Ein fünfzehnjähriger Junge ist umgebracht worden. Das ist wirklich schlimm.«
»Denkst du, das weiß ich nicht?«, schreit ihre Mutter, und Jule durchzuckt ein eisiger Schrecken. Verdammt! Sie hat doch tatsächlich für einen Moment vergessen, dass auch ihre Mutter schon den Tod eines Kindes, Jules Bruder, verkraften musste. »Mama, es tut mir leid, ich … «
Aufgelegt.
»Scheiße!« Jule schlägt mit der Faust auf den Tisch. Dann legt sie das Gesicht in ihre Hände und fühlt sich mies.
Das Aufnahmegerät ist eingeschaltet, Ruben Döhring wurde soeben von Oda Kristensen über seine Rechte belehrt. Er sitzt im Verhörraum, ihm gegenüber Oda und Völxen.
»Ich brauche keinen Anwalt, ich habe nichts gemacht.«
»Gut. Dann schildern Sie mir doch mal, wie Sie den gestrigen Tag verbracht haben.«
»Ich bin gegen Mittag aufgestanden, dann habe ich gefrühstückt, mit Leif, das ist ein Mitbewohner.
Weitere Kostenlose Bücher