Todesspur
vor sich hin schimpft, dass sie am besten gar nicht erst hergekommen wären. Aber Fernando hatte darauf bestanden und Völxen wollte ihn nicht allein lassen.
Höchste Zeit zu gehen, lautstarke Flüche von Vater und Bruder hallen jetzt durch den Gang, ein wütender Abgesang, der ihre hastigen Schritte begleitet.
Eine Schwester läuft ihnen hinterher. »Herr Kommissar! Warten Sie mal!«
Mit vielsagendem Augenaufschlag überreicht sie Völxen eine Plastiktüte, in der sich die Jacke des Jungen befindet. »Sie sollten mal in die Taschen sehen.«
Im Wagen kontrollieren sie die Jacke. Die Ausbeute ist beachtlich: ein Springmesser, etwa zehn Gramm Kokain und eine Sammlung verschiedener Pillen.
Fernando hört Völxen zum wiederholten Mal sagen: »Eins ist klar: Du kannst nichts dafür. Es war seine Schuld, er ist weggerannt … «
»Aber er würde noch leben, wenn ich ihm nicht nachgerannt wäre!«, stößt Fernando nun hervor.
Völxen sieht ihn unter seinen buschigen Augenbrauen heraus eindringlich an. »Fernando, wie oft bist du schon einem Dealer hinterhergerannt, als du beim Rauschgift warst?«
Fernando weiß, was sein Chef meint. Das Wegrennen gehört dazu, es ist fast wie ein Ritual, sie versuchen es immer. Darüber hat er neulich mit Jule gesprochen, die dieselbe Erfahrung gemacht hat. Und noch eine andere: Die kleine, halbmondförmige Narbe auf ihrer linken Wange stammt von einem Dealer, der erst wegrannte, dann aber sein Messer zog. Wahrscheinlich so eines wie das, was sie eben in Tahirs Jacke gefunden haben. Ja, er war ein Dealer, ein Gewalttäter, das alles weiß Fernando, und doch … »Aber er war noch ein Kind, verdammt!«
»Mag sein, aber du hattest einen Grund, ihn zu verfolgen. Noch einmal: Du bist nicht schuld! Wenn überhaupt jemand Schuld an der Sache trägt, dann die Eltern, die sich nicht um ihren Jungen gekümmert und ihn nicht erzogen haben, die seit Jahren zulassen, dass er eine Straftat nach der anderen begeht, die zulassen, dass er mit Drogen handelt und Leute verprügelt. Die sollten sich die Schuldfrage stellen, nicht du. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
Auch Fernando schweigt. An die Rückfahrt erinnert er sich nicht mehr, er kommt erst wieder einigermaßen zu sich, als Völxen hinter dem Laden seiner Mutter parkt und ihr kurz darauf erklärt, was geschehen ist.
Pedra, sonst gerne laut, hysterisch und flatterhaft, kann in Krisensituationen erstaunlich ruhig bleiben. Sie bekreuzigt sich lediglich drei Mal und ruft dann nach Jamaina. Die kommt herbei, ein ängstlicher Blick auf Fernando und Völxen. Pedra tuschelt mit ihr, dann stellt sich Jamaina hinter die Theke, während Pedra Rodriguez mit Fernando und Völxen nach oben geht, in ihre gemeinsame Altbauwohnung über dem Laden.
»Pedra, koch uns einen Tee. Irgendwas Beruhigendes.«
Völxen setzt sich mit Fernando an den Küchentisch mit der Wachstuchtischdecke. »Wir müssen durchgehen, was passiert ist. Schritt für Schritt.«
»Was, jetzt?«, fragt Fernando. Er spürt auf einmal rasende Kopfschmerzen.
»Ja, jetzt«, sagt Völxen erbarmungslos. »Morgen wird die Hölle los sein. Die Presse wird einen Mordswirbel veranstalten, die Staatsanwaltschaft wird gegen dich ermitteln, und es wird eine interne Untersuchung geben. Deshalb sollten wir beide nach Möglichkeit dasselbe aussagen, damit du heil aus der Sache rauskommst.«
»Aber … aber wir müssen doch nicht lügen«, stottert Fernando. »Du hast doch selber gesagt …«
»Stimmt. Aber das menschliche Gedächtnis funktioniert selektiv. Manchmal erinnern sich zwei Leute an verschiedene Dinge, das kennst du doch: Augenzeugenberichte ein und derselben Sache fallen oft ziemlich unterschiedlich aus. Deshalb müssen wir uns abstimmen. Glaub mir, ich habe mal das Theater mitbekommen, wie zwei meiner Kollegen vom KDD auf einer Einsatzfahrt einen Fußgänger angefahren haben. Der Mann war sturzbetrunken und ist ihnen vom Gehsteig runter quasi vors Auto gekullert, sie hätten so oder so keine Chance gehabt. Aber da war ganz schön was los, besonders weil die Schilderungen minimal voneinander abgewichen sind. Also … «
Fernando wirft zwei Aspirin in ein Glas Wasser und sieht den taumelnden Tabletten beim Sichauflösen zu. Völxen hat recht, und er will ihn nur schützen.
Pedra bringt den Tee. Sie kauen das Geschehene noch einmal durch. Und danach noch einmal, und dann streikt Fernando.
Völxen steht auf. »Ich muss sowieso zurück. Über der Dienststelle kreisen womöglich
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