Todesspur
ihn buchstäblich in den Tod laufen lassen. Und ihn, Fernando, hat irgendein perfides Schicksal zum Vollstrecker auserkoren. Morgen wird in der Zeitung stehen: Jugendlicher Intensivtäter auf der Flucht vor der Polizei überfahren oder so ähnlich, und die meisten Menschen, die das beim Frühstück lesen, würden mehr oder weniger heimlich denken: gut so, einer weniger. Aber niemand würde die Schreie der Mutter hören und die traurigen Augen des Mädchens mit den lockigen Haaren vor sich sehen.
Auf einmal fühlt Fernando zwei Hände an seiner Stirn. Jamaina ist hinter ihn getreten, ihre Finger sind kühl und glatt, sie massiert seine Schläfen, seine Stirn, die Kopfhaut, den steinharten Nacken. Fernando ist nun alles egal, er lässt es geschehen, und wundersamerweise löst sich der Schmerz unter ihren Händen fast vollkommen auf. Aber an seine Stelle tritt etwas anderes. Fernando fühlt plötzlich eine große Traurigkeit in sich aufsteigen, er kann nicht dagegen ankommen, es überrollt ihn geradezu, und schon laufen ihm Tränen über die Wangen. Jamaina hat aufgehört, ihn zu massieren. Ganz leise ist sie gegangen, wohl wissend, dass Fernando ihr nie verzeihen würde, wenn sie ihn in diesem Moment der Schwäche sähe. Fernando steht auf und schließt sich in sein Zimmer ein, wo er den Tränen freien Lauf lässt.
25
Staatsanwalt Hendrik Stevens, der Vizepräsident und der Pressesprecher warten bereits seit zehn Minuten in Völxens Büro. Völxen, der von Oscar lediglich mit einem lässigen Klopfen seines Schwanzes auf den Fußboden begrüßt wird, lässt Frau Cebulla eine zweite Lage Kaffee hinbringen. Die Sekretärin schlägt vor, Oscar für die Dauer der Unterredung bei sich im Büro zu behalten. »Ist jetzt keine so gute Stimmung da drin«, erklärt sie, und Völxen akzeptiert ihren Vorschlag dankbar. Dann geht er entschlossen in sein Büro und erklärt den Herren haarklein, wieso Fernando und er Tahir Nazemi sprechen wollten, schildert, wie sie zuerst an dessen Wohnung waren, danach zur Adresse seines Freundes gegangen sind und schließlich die beiden Jungs auf der Straße entdeckten und ansprachen. »Daraufhin sind die beiden in verschiedene Richtungen geflohen, und Oberkommissar Rodriguez hat Tahir zu Fuß verfolgt, die ganze Bömelburgstraße hinunter. Ich ging zum Wagen, den wir in der Nähe des Eingangs zu Tahirs Wohnung geparkt hatten, und bin den beiden nachgefahren. An der Ecke zur Fenskestraße verloren Rodriguez und ich ihn aus den Augen. Und als wir etwa zeitgleich um die Ecke bogen, war das Unglück schon passiert. Einer der Müllmänner hat ausgesagt, dass sie gerade ihre Tour beendet hatten und auf der Rückfahrt waren, weshalb sie schneller fuhren als sonst. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass bei dem Verunglückten eine größere Menge Drogen – Kokain und noch nicht näher identifizierte Pillen – gefunden wurde. Das war wohl der Grund für seine panische Flucht. Oberkommissar Rodriguez ist keinerlei Vorwurf zu machen.«
»Wo ist Herr Rodriguez denn jetzt, warum kann er uns das nicht selbst erklären?«, fragt Stevens.
»Ich habe ihn nach Hause geschickt. Er ist verständlicherweise sehr mitgenommen von den Ereignissen.«
»Aber Sie sind doch auch hier. Und sagten Sie nicht, sie wären zeitgleich am Unglücksort angekommen?«
»Was soll das werden, Herr Stevens?«, fragt Völxen, und sein Ton ist sehr, sehr leise geworden. »Wem von uns beiden wollen Sie was unterstellen?«
»Nichts, ich wundere mich nur. Ist Rodriguez so sensibel, oder sind Sie so abgebrüht? Und wenn Rodriguez keine Schuld trifft, wie Sie uns hier versichern, dann muss er sich doch nicht verstecken.«
Eins muss man Stevens lassen, ein Schleimer ist er definitiv nicht. Der Staatsanwalt scheint vielmehr eine Wette abgeschlossen zu haben, sich in kürzester Zeit bei jedermann unbeliebt zu machen. Für Völxen ist nun aber endgültig der Zeitpunkt gekommen, den Eiferer in die Schranken zu weisen. »Herr Stevens, ich bin hier, weil ich der Chef der Abteilung bin, und das nicht erst seit gestern. Wenn ich es für angebracht halte, einen Mitarbeiter nach Hause zu schicken, dann haben Sie diese Entscheidung nicht anzuzweifeln! Mit Verstecken hat das überhaupt nichts zu tun.«
Der Rüffel prallt an Stevens ab, als wäre er aus Teflon. Unbeirrt bohrt er weiter: »Sehe ich das richtig, Sie und Oberkommissar Rodriguez haben Tahir Nazemi nicht verfolgt, um Drogen sicherzustellen?«
»Nein«, bestätigt Völxen.
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