Todesspur
nicht.
Pedra Rodriguez eilt herbei, stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst ihren Sohn auf die Stirn, als wäre er ein Erstklässler, der zum ersten Mal alleine zur Schule geht.
»Bis später, Mama.« Fernando schnappt sich seine Jacke und flieht.
»Mach’s gut, und pass auf dich auf, Nando!«, ruft Pedra ihm durchs Treppenhaus nach.
Draußen angekommen nimmt er einen tiefen Atemzug. Ich sollte ausziehen, jetzt wirklich, beschließt Fernando – nicht zum ersten Mal. Er biegt um die Ecke, zum nächsten Kiosk. Bevor er zum Dienst fährt, muss er wissen, was die Presse über ihn schreibt. Tapfer bleibt er vor der Auslage stehen und überfliegt die Schlagzeilen.
Fernando ist erleichtert. Die BILD -Schlagzeile klingt weniger reißerisch, als er befürchtet hatte. Noch dazu muss sich Tahir die Titelseite mit dem Fall »Niko R.« teilen:
Dass es nur ein Schuss gewesen ist – geschenkt.
Auch die Neue Presse hält sich zurück und titelt:
fragt das Blatt und zählt alle schweren Kriminalfälle der letzten Jahre im Steintorviertel noch einmal auf.
Als Fernando schließlich zwischen anderen morgenmüden Menschen in der Stadtbahn sitzt, fühlt er sich schon ein wenig besser. Nicht einmal sein Erzfeind Boris Markstein hat ihn in der Luft zerrissen. Aber wenn man, so wie Fernando jetzt, in Ruhe darüber nachdenkt, war das eigentlich zu erwarten. Die BILD hat zuvor wochenlang recht einseitig über jugendliche kriminelle Ausländer berichtet und in Sarrazin’scher Manier nach einem schärferen Vorgehen von Polizei und Justiz gerufen. Es wäre ein zu harter Schwenk, wenn man jetzt, wo ein solcher Polizeieinsatz schiefgegangen ist, allzu sehr auf die Tränendrüse drückte oder gar auf die Polizei einprügelte. Außerdem nimmt das Blatt ja gerne für sich in Anspruch, das Sprachrohr von Volkes Stimme zu sein, und die meisten Leser werden den Tod eines jugendlichen Intensivtäters wohl wenig bedauern. Und wenn Fernando ganz ehrlich zu sich selbst ist, hat er bis gestern auch noch so gedacht. Oder zumindest in diese Richtung. Natürlich hat der Pressesprecher Fernandos Namen nicht genannt, und so, wie es da steht, klingt es, als handelte es sich um einen tragisch verlaufenen Einsatz des Rauschgiftdezernats. Spätestens heute wird auch bis zu Markstein und Konsorten durchsickern, wer den Jungen verfolgt hat, aber dann ist die Nachricht schon nicht mehr frisch, es wird also höchstens ein kleines Nachtreten geben, das rasch verpufft.
Solchen Überlegungen nachhängend schaut Fernando aus dem Fenster, während die Bahn durch Linden rattert. Grau und so monströs, als käme es nicht von dieser Welt, ragt das Ihme-Zentrum in den milchigen Morgenhimmel. Die Straßenbäume tragen gelbes Laub. Plötzlich zuckt Fernando wie elektrisiert zusammen, denn er blickt sich selbst entgegen. Daneben lächelt Meike Klaasen. Vor lauter Schreck kommt er gar nicht dazu, den Text zu lesen. Diese verdammte Kampagne! Er hat gar nicht mehr daran gedacht, und niemand hat ihm gesagt, dass das so schnell gehen würde. Wahrscheinlich hängt schon die ganze Stadt voll mit Bildern von ihm. Und tatsächlich, eine Station weiter prangt das Gruppenfoto auf einer Litfaßsäule. Verstohlen sieht sich Fernando in der Bahn um. Hat ihn schon jemand erkannt? Die Frau gegenüber löst ein Sudoku. Hinter sich hört er ein Kichern. Verstohlen wirf er einen Blick über die Schulter. Zwei Mädchen amüsieren sich über eine SMS . Fernando wagt kaum noch, den Kopf zu heben. Du lieber Himmel, was ist, wenn die Angehörigen von Tahir Nazemi so ein Plakat entdecken? Den vermeintlichen Mörder ihres Sohnes in der ganzen Stadt hängen sehen, immer wieder, lächelnd, als wollte er sie verhöhnen?
In einem Anfall von Panik stürzt Fernando an der nächsten Haltestelle aus der Bahn und ruft Völxen an.
»Ach, du Scheiße! Ausgerechnet jetzt! Ich rede sofort mit dem Vize, der muss diesen Unfug stoppen. Ach, und du, du kannst gleich weiterfahren in die MHH . In einer halben Stunde obduziert Bächle den toten Zuhälter.«
Normalerweise erfindet Fernando immer tausend Ausreden, um sich vor Leichenöffnungen zu drücken. Allein der Geruch da drin! Vom Anblick ganz zu schweigen. Nicht nur einmal hat er sich auf der Toilette der Rechtsmedizin übergeben. Aber heute ist er seinem Chef dankbar, dass er ihn dorthin schickt. Er hätte alles getan, nur um nicht in die PD zu müssen, wo er bestimmt Mitleid, Spott und Häme im Überfluss zu erwarten hat. Zu
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