Todesspur
sind nämlich ein gutes Team, wir mögen uns, und wir vertrauen einander, und deshalb haben wir eine Aufklärungsquote von annähernd hundert Prozent. Und das Letzte, was wir dabei brauchen, ist ein Paragrafenreiter, der uns auf die Finger klopft und auf Vorschriften besteht.«
Stevens Augenbrauen sind während Jules Rede immer mehr nach oben gewandert und jetzt, wo er sie durch seine glasklaren Brillengläser schweigend ansieht, dämmert es Jule, dass das eben Gesagte ihrer künftigen Karriere sicherlich nicht gerade förderlich war. Sie spürt, wie sie rot wird, vor Verlegenheit und vor Ärger über ihr vorlautes Mundwerk. Soll sie sich entschuldigen? Nein, du machst jetzt keinen Rückzieher, befiehlt sie sich. Es musste mal gesagt werden, auch wenn der Ton vielleicht ein bisschen zu rau war.
Zu ihrer Überraschung lächelt Stevens plötzlich und sagt: »Sie haben vielleicht Haare auf den Zähnen.«
»Medizinisch betrachtet ist das unmöglich«, widerspricht Jule.
»Und Sie müssen auch immer das letzte Wort haben.«
»Nicht immer.«
Stevens schaut auf die Uhr. »Ich hätte einen Vorschlag: Da drüben ist das Café Mezzo . Man sagte mir, dass es dort die besten Flammkuchen der Stadt gibt. Darf ich Sie zu einem einladen?«
Jule würde lieber nach Hause gehen, aber wenn sie jetzt ablehnt, dann ist er womöglich wirklich beleidigt, und einen Staatsanwalt muss man sich nicht unbedingt zum Feind machen. Sie hat sich ohnehin ganz schön weit aus dem Fenster gelehnt. Und was die Flammkuchen betrifft – damit hat er ja ausnahmsweise recht. »Gut, einverstanden.«
Sie kehren um, wobei ihr Stevens auf eine etwas steife, altmodische Art seinen Arm anbietet. Fast automatisch hakt sich Jule bei ihm ein. Notwendigerweise müssen sie nun ihre Schritte harmonisieren, was nach wenigen Metern tatsächlich funktioniert, indem sie das Tempo herunterschrauben, und schließlich gehen sie den Weißekreuzplatz entlang, einträchtig wie ein altes Ehepaar beim Sonntagsspaziergang, wobei Jule denkt: Das ist jetzt das zweite Mal heute, dass ich mit einem Mann in ein Café gehe, den ich eigentlich gar nicht ausstehen kann.
27
Die Mondsichel steht schon hoch am Himmel, aber Völxen lungert immer noch draußen am Zaun seiner Schafweide herum. Die Tiere haben sich unter dem Apfelbaum versammelt, der seine schon ziemlich entlaubten Äste in den Nachthimmel reckt. Ab und zu verdunkelt ein Wolkenfetzen den Mond, aber die hellen Schafe sieht Völxen trotzdem. Sie scheinen im Stehen zu schlafen. Glückliche, sorglose Kreaturen – dem Anschein nach zumindest, denn wer kann schon mit Gewissheit sagen, ob und wann ein Schaf glücklich ist? Wandas Demo haben sie jedenfalls gut überstanden.
Die Worte des Staatsanwaltes sitzen Völxen noch immer wie ein Stachel im Fleisch. Vielleicht hat dieser Stevens ja recht. Vielleicht war es eine unnötige Verfolgungsjagd, vielleicht hätte man wirklich warten können, bis der Junge wieder nach Hause kommt. Aber hätte er Personal bekommen für eine Observierung? Eher nicht. Ist der Junge also ein Opfer der Sparmaßnahmen, des Personalmangels? Nein, das wäre zu einfach. Solche Dinge passieren eben, daran trägt niemand ›Schuld‹, und hinterher ist man immer schlauer – auch wenn das ein reichlich abgewetztes Klischee ist.
Wie es Fernando wohl gerade geht? Wird er damit fertigwerden? Hoffentlich steigert er sich nicht zu sehr in seine Schuldgefühle hinein. Völxen selbst hat vor vielen Jahren einem flüchtigen Bankräuber ins Bein geschossen, und noch heute wird ihm flau, wenn er daran denkt. Aber Fernando hat ja nicht einmal geschossen, fällt Völxen ein, und doch ist nun ein junger Mensch tot. Für einen törichten Moment wünscht sich Völxen, dass Tahir Nazemi wenigstens der Mörder von Olaf Döhring wäre. Aber würde das etwas an der Sache ändern, hätte er durch diese Tat seinen eigenen Tod ›verdient‹? Blödsinn! Völxen kapituliert. Er wird jetzt zu Bett gehen und versuchen zu schlafen.
»Nando, iss was, du brauchst heute gute Nerven.«
»Mama, ist dir schon mal aufgefallen, dass ich morgens nie etwas esse?«
»Ja, aber, ich mein doch nur … «
Fernando stöhnt auf. Die intensive Fürsorge, die sie seit gestern an den Tag legt, geht ihm auf die Nerven. Sie benimmt sich, als litte er an einer unheilbaren Krankheit. Er stürzt seinen Kaffee hinunter und steht auf. »Mach dir keine Sorgen, man wird mir schon nicht den Kopf abreißen.« Ganz sicher ist er sich da allerdings
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