Todesspur
Bahn nach Linden fährt und bei Fernando vorbeischaut. »Tja, ich fürchte, meine Tochter ist eine Schlampe.«
»Unsinn!«
»Ich weiß nicht, ob ich es gut finden soll, dass sie ihre One-Night-Stands in unsere Wohnung schleppt.«
»Wäre es dir lieber, sie bliebe über Nacht weg und du müsstest dir Sorgen um sie machen?«
»Mir wäre es lieber, sie bliebe weg und sagt mir Bescheid. Andererseits – so komme ich in den Genuss des Anblicks knackiger junger Männer. Den nächsten finde ich vielleicht nackend in der Dusche.«
»Das ist natürlich ein Aspekt, den man nicht außer Acht lassen darf«, grinst Tian Tang. Sein Essen wird von der winzigen Asiatin hinter der Theke ausgerufen, und er holt sich das gebratene Gemüse mit Reis ab. Ein paar Minuten essen sie schweigend, dann rückt Oda mit der Sprache heraus.
»Sag mal, bei dir ist doch ein Mädchen namens Gwen Fischer in Behandlung … «
»Sie ist die Freundin eures Mordopfers, nicht wahr?«, entgegnet Tian Tang.
»Ja. Hat sie mal über ihn gesprochen?«
»Ja.«
»Was hat sie gesagt?«
Tian sieht Oda mit schief gelegtem Kopf und gerunzelter Stirn an.
»Okay, Schweigepflicht, schon klar. Ich weiß, dass sie an Depressionen leidet und magersüchtig ist. Aber da ist noch was. Jule und ich haben den Verdacht, dass ihr Vater sie missbraucht.« Aufmerksam beobachtet Oda das Gesicht ihres Liebhabers, obwohl sie genau weiß, dass dessen Miene nie etwas verrät, das er nicht verraten will.
»Habt ihr konkrete Hinweise?«
»Nein, es ist nur so ein Gefühl, wir können uns auch irren. Ich dachte, du wüsstest vielleicht Näheres darüber.«
»Oda, selbst wenn ich etwas darüber wüsste … «
»Schon gut«, unterbricht Oda. »Es würde mich enttäuschen, wenn du mir davon erzählen würdest. Ich will schließlich auch nicht, dass irgendjemand von meinem schiefen Lendenwirbel erfährt. Aber ich möchte dich trotzdem um einen Gefallen bitten: Wenn sie wieder mal bei dir ist, dann könntest du das Thema ganz vorsichtig anschneiden.«
»Wie stellst du dir denn das vor?«, erwidert Tian.
»Was weiß denn ich? Bin ich hier der Wunderheiler oder du?«
»Na ja …!«
»Du natürlich! Meinem Rücken ging es noch nie so gut wie seit ein paar Wochen, und das alles ohne Spritzen oder Tabletten. Und ohne Sport!«, schwärmt Oda, wohl wissend, dass Tian Tang nicht zu manipulieren ist, weder durch Provokationen noch durch Schmeicheleien. Immerhin quittiert er ihren Versuch mit einem nachsichtigen Lächeln.
Oda seufzt. »Dann leg wenigstens ganz dezent und zufällig diese Karten in den Behandlungsraum, wenn sie das nächste Mal einen Termin bei dir hat.«
Sie nimmt einen kleinen Stapel Visitenkarten einer entsprechenden Hilfsorganisation aus ihrer Handtasche und schiebt sie über den Tisch. Tian steckt sie in die Tasche seines langen Mantels und sagt: »Gut.« Dabei ist sein Gesichtsausdruck völlig undurchlässig.
Er könnte ja wenigstens mal mit einer winzigen Geste andeuten, ob ich eventuell richtigliege, findet Oda. Das kommt davon, wenn man sich mit einem Chinesen einlässt. Sie hat ihn eigentlich noch um Rat fragen wollen, wie man einen Kollegen tröstet, der sich die Schuld am Tod eines Sechzehnjährigen zuschreibt, aber sie lässt es dann doch bleiben. Zwar ist er der Wunderheiler, aber sie hat immerhin ein Diplom in Psychologie. Also begnügt sich Oda für den Rest ihres kurzen Treffens damit, sich heimlich an dem anmutigen Bogen von Tians Wangenknochen zu erfreuen und in dem geschickten Spiel seiner eleganten Hände mit den Essstäbchen aufzugehen.
»Hören Sie gut zu. Ich will Zehntausend, dann erfährt die Polizei nicht, wo ich Ihr Auto am Sonntagabend gesehen habe. Und ich lass mich nicht an einer dunklen Ecke abknallen, ich bin nicht so blöd! Wenn mir was passiert, dann bekommt die Polizei automatisch einen Brief … Also, schaffen Sie bis morgen Mittag das Geld ran, dann melde ich mich wieder!« Stellas Puls rast, als sie dem Barmann vom Rocker sein Handy zurückgibt. Schließlich telefoniert man ja nicht jeden Tag mit einem Mörder. Sie bestellt sich noch einen Wodka, zur Beruhigung. Der Typ ist neu, er will gleich kassieren. Stella muss die letzten Münzen zusammenkratzen und dann fehlen noch immer fünfzig Cent. Der Barmann winkt genervt ab, Stella lächelt. Ab morgen wird das anders. Ab morgen bin ich wieder flüssig.
Jule steigt aus der Stadtbahn Linie 10 und überquert den Bahnhofsvorplatz. Sie will den Rest ihres Heimwegs zu Fuß
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