Todesstatte
eine Gelegenheit zu bekommen, mit seinem Wissen zu prahlen. »Eine Gedenkinschrift, sagen Sie?«
»Ja. Ich glaube, sie ist lateinisch: caro data vermibus .«
»Ah, ja, sehr interessant«, sagte Robertson.
»Das dachte ich mir schon.«
»Kadaver.«
»Wie bitte?«
»Das ist ein Beispiel für akronymische Ableitung. Früher glaubte man, der Begriff âºKadaverâ¹ würde von den Anfangsbuchstaben ihrer lateinischen Inschrift caro data vermibus abstammen. Wörtlich bedeutet sie âºden Würmern übergebenes Fleischâ¹. Diese Formulierung ist äuÃerst treffend â zumindest im Fall einer Beerdigung.«
Cooper hatte das Gefühl, ein Stück von der Realität abzurücken, als er dem Professor zuhörte. Er empfand es inzwischen als Schwäche, dass er so leicht die Welt von jemand anderem betreten und dessen Obsessionen teilen konnte. Die meisten Obsessionen, mit denen er konfrontiert wurde, hätte er am liebsten gar nicht erst an sich herangelassen, und es sah ganz danach aus, als gehörte die von Robertson dazu.Vermutlich würde er sich am Abend irgendetwas Hirnloses im Fernsehen anschauen müssen, um sie wieder aus seinen Gedanken zu verdrängen.
»Ist das Ihre Frau?«, fragte Cooper, als er endlich das Foto entdeckte, nach dem er gesucht hatte. Es war auf einem der unteren Einlegeböden der Vitrine versteckt, eingebettet in der Dunkelheit zwischen zwei Weidenmustertellern. Die Glasscheibe der Vitrine war verschmiert, als habe sie jemand mit schmutzigen Fingern angefasst und seitdem nicht mehr geputzt.
Der Professor war auf dem Foto leicht zu erkennen, obwohl er zehn bis fünfzehn Jahre jünger gewesen sein musste und sich mit einem Smoking und einer roten Fliege mit farblich passendem Taschentuch in der Brusttasche herausgeputzt hatte. Die Dame an seiner Seite war groà und elegant und ebenso vornehm gekleidet mit einem roten Abendkleid, das ihre glatten blassen Schultern entblöÃte. Die beiden standen dicht nebeneinander, als sie für den Fotografen posierten. Ihre Haltung wirkte nicht gekünstelt â sie sahen tatsächlich glücklich und einander zugetan aus.
Robertson kam zur Vitrine und bückte sich, um das Foto zu betrachten, als habe er es noch nie zuvor gesehen.
»Ja, das ist Lena. Wir haben damals irgendwelche akademischen Feierlichkeiten besucht.«
Cooper war sich nicht ganz sicher, wie er die nächste Frage stellen sollte. »Ist sie...?«
Der Professor sah ihn einen Moment lang an, als genieÃe er sein Unbehagen.
»Lena ist vor fünf Jahren gestorben, kurz bevor ich in den Ruhestand gegangen bin.«
»Das tut mir leid.«
»Es war natürlich Krebs.«
»Natürlich?«
»Für mich hat Krebs etwas vom alten Seemann, finden Sie nicht? Sie erinnern sich doch an das Gedicht von Samuel Coleridge? âºEin alter Seemann mit grauem Bart hält einen von drei Gästen an.â¹Â«
»Tut mir leid«, erwiderte Cooper. »Ich weià nicht...«
»Jeder Dritte in diesem Land leidet irgendwann in seinem Leben an Krebs.«
»Aha.«
Robertson wandte sich von der Vitrine ab und ging zum Fenster. Er richtete den Blick nach unten auf die neuen Häuser in der halbmondförmigen StraÃe. Cooper nahm abermals einen leichten Geruch wahr. Irgendwie musste er dabei auch an Mottenkugeln denken, obwohl er nicht wusste, wie Mottenkugeln rochen und ob sie überhaupt noch verwendet wurden. Er assoziierte sie mit GroÃmüttern und Sesselschonern. Vermutlich würde er in eine Drogerie gehen und sich welche besorgen müssen, um herauszufinden, ob er den Geruch einordnen konnte.
SchlieÃlich blieb der Professor stehen und drehte sich zu ihm um. »Die moderne Gesellschaft handhabt denTod schlecht, finden Sie nicht? Die meisten Menschen würden sagen, dass sie sich einen ruhigen, würdevollen Tod wünschen. Trotzdem stirbt die Mehrheit von uns in Krankenhäusern, umgeben von Atemgeräten, Dialysegeräten, Nasen-Magenschläuchen und muss sich endloser Chemotherapie und Herz-Lungen-Wiederbelebungsprozeduren unterziehen. Der Tod wird zu einem mechanischen Spektakel, bei dem die Waffen der Technologie gegen die natürlichen Prozesse antreten. Ein Miniatur-Armageddon, das in den Adern ausgefochten wird.«
»Das muss eine sehr schwierige Zeit für Sie gewesen sein«, sagte Cooper. Diese Formulierung hatte er andere Leute in einer
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