Todesstatte
die Ohren des Hundes nach hinten wie die ausgefransten Enden eines Wollschals. Als Cooper den Hund beobachtete, begann dieser, die Schnauze am Boden, zwischen den Reihen von Grabsteinen nach interessanten Gerüchen zu schnuppern.
Der Anblick erinnerte Cooper an eine der Legenden, die ländlichen Begräbnisstätten noch immer anhafteten: das tödliche Friedhofs-Miasma. Angeblich sonderten begrabene, verweste Leichname ein giftiges Gas ab, das sich den Weg durch das Erdreich nach oben bahnte und einen unsichtbaren Nebel bildete. Es hing über dem Friedhof und verpestete die Luft, wobei es jeden vergiftete, der zu nahe kam. Doch dabei handelte es sich ganz sicher nur um einen Aberglauben, der als Rechtfertigung diente, sich von Friedhöfen fernzuhalten und die Gegenwart des Todes zu meiden.
Cooper schüttelte sich, um die morbiden Gedanken loszuwerden. In den stillen Augenblicken am Ende einer Schicht gingen ihm in der Regel noch einmal die Ereignisse des Tages durch den Kopf. Vor allem die unangenehmsten Momente wiederholten sich immer wieder und veranlassten ihn, sich fieberhaft zu überlegen, ob er irgendetwas hätte besser machen können. Heute hatte es mehrere solche Momente gegeben. Zumindest glaubte er, Tom Jarvis ziemlich gut zu verstehen. Doch er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob Fry mit Madeleine Chadwick nicht besser zurechtgekommen wäre oder ob sie es geschafft hätte, mit Freddy Robertsons Holzhammermethode umzugehen.
Er konnte sich noch genau daran erinnern, als er Fry kennengelernt hatte. Noch jetzt hatte er genau vor Augen, wie sie in die Einsatzzentrale in der West Street marschiert war. Zunächst hatte sie ihm nicht in die Augen gesehen, sondern nach links und rechts geblickt, als suchte sie nach einem Beweis für seine Fehler, nach Spuren irgendeiner Schwäche, die sie hätte ausnützen können. Frys Zierlichkeit entsprach zwar nicht dem Frauenbild, mit dem Cooper aufgewachsen war, doch es war von Anfang an klar gewesen, dass sie kein Schwächling war.
Er wünschte sich nur, sie würde manchmal lächeln. Ein Lächeln entspannte ihre Gesichtszüge und lieà die dunklen Schatten verschwinden, die immer in ihren Augen lauerten. Auch zu Lebzeiten konnten Menschen das Aussehen ihres Gesichts verändern.
Melvyn Hudson hatte heute von den Wundern gesprochen, die im Präparierungsraum vollbracht wurden. Und in gewisser Weise stimmte das auch. Sie holten einen Leichnam mit eingefallenem Gesicht und runzligen Fingern ab und pumpten ihn mit einer rosafarbenen Flüssigkeit voll, die sich mit den verbliebenen Körpersäften vermischte wie ein Schuss Champagner in einem Cocktail. Und nach und nach verwandelten sie eine verschrumpelte Leiche wieder in irgendjemandes GroÃmutter. Ein Wunder.
Auch Gerichtsmediziner waren in der Lage, die Fingerspitzen von Leichnamen wiederherzustellen, indem sie Gewebeaufbaumittel injizierten, damit den Toten Fingerabdrücke abgenommen werden konnten. Man konnte für diesen Zweck sogar ein fertiges Set kaufen, das Spritzen, Nadeln und Gewebeaufbaumittel enthielt.Wer behauptete da, die Toten könnten nicht aus dem Jenseits kommunizieren?
Dann dachte Cooper an Audrey Steele. Audrey hatte ganz bestimmt versucht, aus dem Jenseits zu kommunizieren. Irgendwo würde sie sich darüber ärgern, dass er ihr nicht zuhörte.
Wir wenden uns ab und schlieÃen die Augen, wenn sich die Pforten zu einer ganz neuen Welt öffnen: zu den duftenden fleischlichen Gärten der Verwesung.Wir weigern uns, die flieÃenden Körpersäfte zu bewundern, die blühenden Bakterien, die dunklen, aufgedunsenen Blüten der Verwesung. Das ist die wahre Natur des Todes. Wir sollten die Augen öffnen und lernen .
Diane Fry blickte auf, als plötzlich ein Geräusch ertönte. Sie hatte der Aufnahme kaum Gehör geschenkt, war meilenweit weg gewesen, von ihren Erinnerungen getragen, hinaus aus Edendale und weit weg von Derbyshire. Sie bemerkte, dass es im Raum inzwischen dunkel war. Es brannte nur noch eine Schreibtischlampe, während immer und immer wieder die Stimme ertönte. Töten ist ein natürliches Bedürfnis von uns . Fry drückte die »Pause«-Taste, und die Stimme erstarb.
»Diane, alles in Ordnung mit Ihnen?«
Es war Liz Petty, die beim Verlassen des Gebäudes auf dem Weg von der Spurensicherungsabteilung in der Einsatzzentrale vorbeikam. Das war ein beträchtlicher Umweg.
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