Todesstatte

erkundigte sich Hitchens.
    Â»Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Kind und Ihr Vater würde Sie hin und wieder schlagen, wenn er am Samstagabend betrunken nach Hause kommt. Ein normales Kind zieht den Kopf ein und hofft, dass sein Vater es diese Woche nicht schlagen wird. Aber wenn Sie ein solches Kind sind, ist es Ihnen lieber, wenn Ihr Vater Sie jeden Samstagabend schlägt, als nicht zu wissen, ob er sie schlagen wird oder nicht. Unberechenbarkeit ist das Schlimmste überhaupt. Ein solches Kind wird möglicherweise absichtlich etwas tun, um seinen Vater wütend zu machen und sicherzugehen, dass er es schlägt. Dann fühlt es sich sicher.«
    Â»Meine Güte.«
    Kane nickte. »Mit dieser Art von Persönlichkeitsstörung umzugehen, ist äußerst schwierig. Es gibt keine Behandlung, nur Möglichkeiten, die Auswirkungen zu minimieren – und auch nur dann, wenn die Krankheit diagnostiziert wird, bevor es zu spät ist.«
    Â»Zu spät?«, fragte Hitchens.
    Â»Tja, als Kind fehlt einer solchen Person die Kraft, das Handeln von Erwachsenen auf eine andere Weise zu beeinflussen, als dadurch, dass es sich selbst zum Opfer macht. Doch später im Leben wird ihr möglicherweise bewusst, dass es noch eine andere Möglichkeit gibt, um mit der Unberechenbarkeit anderer Menschen fertig zu werden.« Die Psychologin drehte leicht den Kopf, um Fry anzusehen. »Dann entdeckt sie die Fähigkeit, andere berechenbar zu machen – indem sie sie nicht-lebendig macht.«
    Â»Die große Frage ist, ob er seine Bemerkung ernst meint, dass er jemanden töten möchte«, sagte Fry. »Oder könnten sich seine Botschaften auch auf etwas beziehen, was in der Vergangenheit geschehen ist?«
    Â»Wenn es tatsächlich ein früheres Ereignis gegeben hat, dann könnte es sich um einen Übungsmord handeln.«
    Â»Um einen Übungsmord?«
    Â»Die Ausübung der neu entdeckten Macht über andere Menschen. Diese Person strebt vermutlich irgendeine Form von Perfektion an. Das ergibt einen Sinn.«
    Â»Nichts von all dem ergibt einen Sinn.«
    Kane nahm ihre Brille ab und sah Fry an. »Doch, das tut es, wenn Sie sich die Mühe machen, sich in die psychotische Person hineinzuversetzen, um ihre Motivation und ihre Denkprozesse zu verstehen.«
    Â»Aber wir sind uns einig, dass wir es hier mit einem Mörder zu tun haben, Dr. Kane?«, fragte Hitchens.
    Â»Eigentlich gibt’s dafür keinen Beweis. Wir haben es zwar ohne Zweifel mit einer Person zu tun, die eine psychotische Obsession hat, aber sie ist nicht von Mord besessen, sondern vom Tod.«
    Â»Tut mir leid«, sagte Hitchens, »aber ich sehe den Unterschied nicht.«
    Â»Der Unterschied ist äußerst signifikant«, sagte Kane. »In seinen Botschaften beziehen sich fast alle Details der Geständnispassagen darauf, was nach dem Tod mit dem Leichnam geschieht. Wie viele Mörder bleiben bei ihrem Opfer? Sobald ihr Opfer tot ist, sind die meisten nur noch daran interessiert, nicht entdeckt zu werden oder Beweise zu vernichten. Diese Person jedoch nicht.«
    Â»Dr. Kane«, sagte Fry, »sind Sie der Ansicht, ein solcher Mensch würde zu einem Beruf tendieren, bei dem er in der Lage ist, seiner Obsession zu frönen?«
    Â»Zweifellos.«
    Â»Die Bestattungsbranche?«
    Â»So genau möchte ich mich nicht festlegen.«
    Â»Schade, sonst hätten wir fast schon ein Täterprofil gehabt.«
    Cooper hob seinen Kugelschreiber, um auf sich aufmerksam zu machen. »Was ist mit den Anspielungen auf Sarkophage und die ›Todesstätte‹?«
    Â»Diese Anspielungen sind vermutlich symbolisch«, erwiderte Kane.
    Fry bemerkte, dass Cooper unruhig wurde wie ein Schuljunge, dessen Lehrer eine plötzliche Erkenntnis ausgelöst hatte.
    Â»Der Sarkophag könnte also ein Symbol dafür sein, etwas der Luft und dem Licht auszusetzen?«, fragte er. »Vielleicht ein dunkles Geheimnis?«
    Â»Er erwartet zweifellos eine gewisse Intelligenz von seinem Publikum. Also sollten Sie eher symbolisch denken als wörtlich.«
    Â»Und der Fleischverzehrer?«, erkundigte sich Fry. »Sagen Sie uns, Dr. Kane, ist der Fleischverzehrer symbolisch gemeint oder wörtlich? Es wäre sehr hilfreich, wenn wir das wüssten.«
    Â 
    Â 
    Nachdem die Psychologin gegangen war, fand Fry Hitchens in seinem Büro, wo er sich wieder einmal gegen die Zähne klopfte. Sie