Todesstatte
hält sich manchmal monatelang â das Organ des Lebens überdauert, während der restliche Körper eitert. Das ist nur einer der kleinen Scherze der Natur.
Und schlieÃlich bleibt nur noch das Skelett übrig. Die Zähne, der Schädel, die schimmernden Knochen. Das ist die letzte Offenbarung, die Enthüllung der Wahrheit. Für die meisten Menschen ist der Tod ein schmutziges Geheimnis, eine Schmach, das letzte Tabu. Für mich ist er die Vollendung, der perfekte Abschluss. Er ist meine einzige Chance, frei zu sein.
Ich bin der Perfektion schon sehr nahe. Doch ihr werdet zu spät kommen. Vielleicht werdet ihr die Todesstätte nie finden. Vielleicht werdet ihr meinen Fleischverzehrer nie kennenlernen.
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»Es gibt eine Persönlichkeitstheorie des deutschen Psychoanalytikers Erich Fromm, die Sie vielleicht interessieren wird«, sagte Dr. Rosa Kane.
Sie stand an der Stirnseite des Tisches und wirkte smart und selbstbeherrscht. Seltsamerweise erinnerte sie Fry irgendwie an Professor Robertson. Dr. Kane schien das moderne, gesellschaftsfähigere Gesicht aus derselben Schule zu sein. Sie hatte nicht gezögert, als Detective Inspector Hitchens sie eingeladen hatte, die Hauptrolle bei der Besprechung zu übernehmen.
»Fromm war der Ansicht, dass sich die meisten stark neurotischen Menschen zumindest bemühen, mit dem Leben zurechtzukommen«, sagte Kane. »Diesen Persönlichkeitstyp nennt er âºbiophilâ¹ oder lebensliebend. Doch es gibt noch einen weiteren Typus, den er als âºnekrophilâ¹ bezeichnet â Menschen, die den Tod lieben.«
Fry blickte sich am Tisch um und sah, dass sowohl Hitchens als auch Cooper die neuen Begriffe in ihr Notizbuch schrieben. Der Detective Inspector machte den Eindruck, als habe er Probleme mit der Buchstabierung.
»Nekrophil?«, fragte er.
»Ja. Für solche Menschen geht von allem, was tot oder verwest ist, eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Sie verspüren ein leidenschaftliches Bedürfnis, alles Lebendige in etwas Nicht-Lebendiges zu verwandeln. Fromm nannte das âºdie Leidenschaft, lebende Strukturen zu zerreiÃenâ¹. In der Regel fühlen sich die betreffenden Personen wohl im Umgang mit technischem Gerät, nicht aber im Umgang mit Menschen.«
Fry runzelte die Stirn. »Warum mit technischem Gerät?«
»Alles Mechanische ist nicht-lebendig und deshalb vorhersehbar und zuverlässig. Wenn eine Maschine versagt, kann man die Ursache dafür herausfinden und sie reparieren. Menschen sind dagegen anders. Wir verstehen nicht immer, weshalb sie sich so verhalten, wie sie es tun.«
»Das trifft hier ganz bestimmt auf einige Leute zu«, sagte Murfin. Doch Dr. Kane ignorierte ihn.Vermutlich war ihr aufgefallen, dass Murfin sein Notizbuch nicht aufgeschlagen hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er nicht einmal einen Kugelschreiber bei sich.
»Menschen mit dieser Art von Persönlichkeitsstörung ziehen Maschinen in jedem Fall vor«, sagte sie. »Wenn sie sich genötigt sehen, mit anderen Menschen umzugehen, können Probleme auftreten. Die menschliche Unberechenbarkeit erscheint ihnen bedrohlich. Deshalb verspüren sie unter Umständen den Drang, eine lebendige Person nicht-lebendig und damit sicher zu machen.«
Das war zu viel. Fry spürte die Wut in sich überkochen.
»Eine Person nicht-lebendig machen? Was für eine schönfärberische Formulierung ist das denn?«
Kane hielt inne, schürzte die Lippen und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie schwieg gerade lange genug, um klarzustellen, dass sie diese Frage nicht beantworten würde. Sie blickte zu Detective Inspector Hitchens auf.
»In der verzerrten Wahrnehmung des betreffenden Individuums ist eine solche Handlung unter Umständen eine Form von Selbstverteidigung«, sagte sie.
Fry schnaubte, und Hitchens warf ihr einen wütenden Blick zu.
»Da ist noch etwas, das Ihnen weiterhelfen könnte«, sagte Kane. »Persönlichkeitsstörungen dieser Art zeichnen sich oft schon in der Kindheit ab. Allerdings bedarf es in der Regel eines traumatischen Erlebnisses, damit sie zutage treten und ein Kind dazu bringen, sich an Rituale zu klammern, um sich abzusichern. Ein solches Kind empfindet Berechenbarkeit als beruhigend, selbst wenn es sich dazu über jede normale Logik hinwegsetzen muss.«
»Könnten Sie uns ein Beispiel nennen?«,
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