Todeswald
Nachricht. Trotz allem war heute Freitag.
„Gehen wir schwimmen?“
Die Antwort kam sofort.
„Tut mir leid. Komme erst spät nach Hause.“
„Rutsch mir doch den Buckel runter“, murmelte ich.
„Was?“, fragte Linus.
„Hab mit Glöckchen gesprochen.“
Wir tranken Saft, futterten Kekse, redeten über die Schule, Hausaufgaben und Hunde und vermieden ernstere Gesprächsthemen. Ich hätte gern sein Zimmer gesehen, aber Glöckchen zuliebe mussten wir natürlich in der Küche bleiben. Dann brauchte sie keinen Plastikkragen zu tragen, unsere Gesellschaft tat ihr außerdem gut und beruhigte sie.
Weil Papa nicht vorhatte, mit mir schwimmen zu gehen, brauchte ich erst zum Abendspaziergang mit Wuff wieder zu Hause zu sein. Gleichzeitig war mir klar, dass ich nicht beliebig lang hier herumsitzen konnte. Irgendwann muss man gehen, sonst kann man nicht wiederkommen, sagt Opa immer.
Das Schicksal löste das Problem für mich. Oder vielmehr meine eigene Schussligkeit.
Ich schnappte mir einen Keks und wollte gleichzeitig mein Saftglas leeren. Es gelang mir, den Keks zwischen Daumen und Zeigefinger festzuhalten, aber der Saft landete mitten auf meinem hellblauen Pulli.
„Oje“, sagte Linus.
Bekümmert, aber auch etwas schüchtern musterte er den Fleck, der von dem Stoff aufgesogen wurde.
Er holte ein Handtuch und hob es unbeholfen an meine Brust, hielt aber sofort verlegen inne.
„No problem, das krieg ich schon hin“, sagte ich. „Ich muss jetzt sowieso nach Hause.“
Ich warf mir die Jacke über die Schultern und nahm schleunigst Reißaus. Innerlich verfluchte ich meine eigene Schussligkeit. Warum musste ich mich auch nach dem Keks ausstrecken wie ein gefräßiger Hund? Und außerdem noch gleichzeitig trinken?
Der Pulli gehörte zu meinen Lieblingsklamotten, darum zerbrach ich mir auch den Kopf darüber, wie ich ihn sauber bekommen sollte. Am besten gleich in die Waschmaschine stecken? Nein, lieber vorher mit Fleckenmittel versuchen.
Als ich ins Haus kam, dröhnte aus Mamas Atelier so laute Musik, dass die Scheiben klirrten. Da brauchte ich gar nicht erst zu versuchen, sie zu stören.
Ich suchte in der Waschküche und in der Küche vergebens nach dem Fleckenmittel und schließlich auch in der Garage.
Wuff begleitete mich mit eifrig wedelndem Schwanz. Etwas suchen, das war ein lustiges Spiel! Sie stöberte jede Menge herrlicher Sachen auf. Eine schmutzige Socke. Einen staubigen Ball. Eine kleine Plastikschaufel.
„Das hab ich zwar nicht gesucht, Wuff, aber trotzdem vielen Dank.“
Die Regale längs der einen Querwand waren vollgestopft mit Krempel. Aber zwischen Autowachs und Autoshampoo entdeckte ich endlich die ersehnte Sprayflasche mit Fleckenmittel. Leider standen die Winterreifen im Weg. Bald ist es wieder so weit, dachte ich. Reifenwechseln gehörte zur Frühlings- und Herbstroutine in Nisses und Jannes Werkstatt.
Ich quetschte mich zwischen die Reifen, um an die Flasche heranzukommen, und trat dabei auf etwas Spitzes.
„Au!“
Auf dem Zementboden lag ein Stück geriffeltes Glas. Ich bückte mich und hob es auf. Es war rotbraun verschmiert.
Plötzlich begriff ich. Das war Blut.
Typisch! Erst der Fleck auf dem Pulli, und jetzt blutete ich auch noch!
Mein Fuß tat zwar nicht weh, aber der Schmerz würde schon noch kommen, wenn ich die Wunde säuberte.
Ich holte die Sprühflasche vom Regal, behielt den Glassplitter in der Hand und hüpfte auf einem Bein davon, um den Schaden nicht zu verschlimmern. Wuff rannte um mich herum, begeistert von diesem neuen Spiel. Ein Wunder, dass ich nicht über sie stolperte.
Backen ist vielleicht nicht unbedingt meine Stärke, aber wie man Wunden versorgt, das weiß ich. Beim Joggen durch den Wald kann es schnell passieren, dass einer von uns über Wurzeln oder Steine stürzt.
Ich holte Wundalkohol und Pflaster aus dem Medizinschrank und setzte mich an den Küchentisch. Vorsichtig zog ich den Strumpf aus und malte mir den Anblick, der mich erwartete, schon voller Entsetzen aus. Der Glassplitter war so lang wie ein Zündholz. Die Wunde würde vielleicht sogar genäht werden müssen.
Ich hielt meinen einen Fuß mit der Fußsohle nach oben im Schoß.
Sicherheitshalber säuberte ich den ganzen Fuß mit Alkohol und verzog in Erwartung des Brennens schon mal das Gesicht.
Aber ich spürte nichts.
Ich untersuchte meinen Fuß gründlich. Wie sehr ich auch suchte, ich fand keine Wunde.
Um sicherzugehen, musterte ich zusätzlich meinen linken Fuß. Auch dort
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