Todeswatt
Aussehen der Frau vor dem Hotel. »Was macht die denn da?«
»Sie hat sich mit Sönke Matthiesen getroffen«, antwortete Dirk Thamsen.
Die Fähre legte ab und er hatte endlich Zeit, sich am Anleger einen Kaffee zu besorgen. Die schwarze Plörre, die er unter anderen Umständen als ungenießbar bezeichnet hätte, schmeckte ihm in diesem Moment wie frisch gerösteter, handgefilterter Hochlandkaffee. Dazu gönnte er sich ein belegtes Brötchen. Er setzte sich mit seinem Pappbecher auf die Treppe zum Informationshäuschen und sah dem sich rasch entfernenden Schiff nach. Unwillkürlich kam ihm dabei der Vergleich zur Distanz zwischen ihm und seinem Vater in den Sinn. Auch sie schien von Tag zu Tag größer zu werden, als sie bereits war. Seit dem Streit hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Und das würde nach Dirks Einschätzung diesmal auch noch eine Weile so bleiben. Aber so sehr er sich auch ein klärendes Gespräch wünschte, er würde nicht auf seinen Vater zugehen. Und wenn es Wochen, Monate oder gar Jahre dauern sollte. Da konnte er stur sein, denn Sturheit hatte er schließlich von seinem Vater geerbt.
Anderthalb Stunden später traf Claudia Lemke ein. Sein Herz machte einen Satz und er spürte wieder dieses Kribbeln, als er sie über den Anleger näher kommen sah. Sie trug eine enge Jeans und einen Wollblazer. Ihre Füße steckten in hochhackigen Pumps, und neben dem für ihn unerklärlichen Phänomen, wie man in derartigen Schuhen überhaupt laufen konnte, fragte er sich, ob ihr nicht kalt werden würde. Das Wetter war zwar sonnig, aber auf dem Schiff würde unter Garantie ein frischer Wind wehen.
Er begrüßte sie förmlich und auch sie war heute mehr als zurückhaltend. »Mein Auto steht dort drüben. Kommen Sie Frau Lemke.« Sie nahm auf dem Beifahrersitz Platz und schlug ihre endlos langen Beine übereinander. Der Duft ihres betörenden Parfums breitete sich innerhalb kürzester Zeit im Wagen aus und raubte Thamsen beinahe den Atem.
Diesmal war die Fähre nach Angaben des Ordners ausgebucht, aber als Thamsen seinen Dienstausweis zückte und betonte, dringend aufgrund des Mordfalls auf die Insel zu müssen, fand sich noch ein Stellplatz
»Möchten Sie etwas trinken?«, erkundigte er sich, nachdem sie das Auto verlassen und ins Unterdeck gestiegen waren.
Sie nickte und Thamsen besorgte ihnen Kaffee in der Pantry.
»Danke«, entgegnete sie, als er ihr den Becher reichte und sich zu ihr an den Tisch setzte. »Ich frage mich, ob ich nicht doch einen Fehler gemacht habe«, bemerkte sie plötzlich, nachdem sie eine Weile schweigend ihre Tasse umklammert gehalten hatte. Allerdings schien sie keine Antwort zu erwarten, sondern sprach einfach weiter. »Aber Marcel und ich, das hat nicht mehr gepasst. Auch schon bevor Arne in meinem Leben auftauchte.«
Sie habe den Freund seit Längerem nicht mehr geliebt, sich aber nicht getraut, einen Schlussstrich zu ziehen.
»Wieso nicht?«, hakte Thamsen nach, der sich sehr für ihre Geschichte interessierte.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht hatte ich Angst.«
»Angst wovor?«
Claudia Lemke hatte geahnt, wie er reagieren würde. Daher sei sie so lange bei ihm geblieben, obwohl sie nichts mehr für ihn empfand. Die Kraft, ihn zu verlassen, hatte sie erst gefunden, als sie Arne kennenlernte.
»Ich habe ihn wirklich geliebt«, versicherte sie und blickte Thamsen dabei tief in die Augen. »Egal was die Leute erzählen.« Anscheinend waren ihr die Vorwürfe, sie wäre nur hinter dem Geld des Bankers her gewesen, bekannt.
Wieder lief Thamsen ein Schauer über den Rücken. Er glaubte ihr und auf einmal empfand er ein starkes Mitgefühl für sie. Einen geliebten Menschen zu verlieren schmerzte furchtbar, zerriss einem das Herz. Behutsam nahm er ihre Hand.
*
Die beiden Freunde saßen nach wie vor in dem kleinen Gastraum und tranken Kaffee. Marlene hatte sich nach dem Gespräch mit Funke brav aufs Zimmer zurückgezogen und Tom war froh, sie aus der Schusslinie zu wissen.
»Hoffentlich dreht dieser Marcel nicht durch, wenn er mit den Vorwürfen konfrontiert wird«, äußerte Haie besorgt. »Man weiß ja nie, wie ein Mensch reagiert, der sich in die Enge getrieben fühlt. Erst recht nicht, wenn es sich um einen Mörder handelt.«
Tom stimmte ihm zu. Wenn der Exfreund von Claudia Lemke wirklich Arne Lorenzen umgebracht hatte, konnte es gefährlich werden. Zu viel stand für ihn auf dem Spiel. Wenn er als Täter überführt wurde,
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