Todeswatt
Sturmfluten abhanden gekommen waren. Tatsächlich aber musste er zugeben, sich für die Vergangenheit seiner Geburtsstadt nie sonderlich interessiert zu haben.
Die Agentur befand sich laut angegebener Adresse in einem heruntergekommenen Einfamilienhaus im Boosbüller Weg. Eigentlich hatte Thamsen bereits gestern das Vermittlungsbüro aufsuchen wollen, es jedoch zeitlich nicht mehr einbauen können. Da die Geschäftsstelle jedoch am Samstagvormittag geöffnet hatte, wie er einer Anzeige im örtlichen Telefonbuch entnehmen konnte, hatte er seinen Besuch auf den heutigen Tag verschoben.
Er parkte seinen Kombi direkt an der Straße und durchquerte den verwilderten Garten im Hindernislauf auf einem holprigen Plattenweg, der überall Risse und Schlaglöcher aufwies.
Neben der Türglocke befanden sich zwei Namensschilder, die den Schluss nahelegten, der Inhaber der Vermittlung wohnte hier.
Thamsen drückte den schwarzen Klingelknopf. Kurz nach dem scheppernden Getöse, welches eine altersschwache Schelle im Inneren des Hauses veranstaltete, hörte er Schritte. Die Tür wurde geöffnet und er blickte direkt in ein Gesicht, das farblich einem französischen Weichkäse glich.
»Herr Boltwig?«
Der Mann nickte. Thamsen schätzte ihn auf Mitte 40, vielleicht etwas jünger. Er trug einen billigen Polyesteranzug und eine gelbe Krawatte, auf der sich bunte Comicfiguren tummelten. Seine Füße steckten in braunen Slippern mit albernen Troddeln. Dazu trug er weiße Tennissocken.
Kleider machen Leute, dachte Thamsen, und wusste sofort, in welche Kategorie der Geschäftsleiter einzuordnen war.
Der hingegen hielt sich, der Art seines selbstbewussten Auftretens nach zu urteilen, für perfekt gekleidet und zeigte ein schmieriges Lächeln. »Goldrichtig«, bestätigte er noch einmal wörtlich die Identität seiner Person.
Thamsen bemühte sich ebenfalls um einen freundlichen Gesichtszug, stellte aber umgehend klar, kein potenzieller Kunde zu sein, indem er seinen Dienstausweis aus der Tasche holte und dem strahlenden Herrn Boltwig vor die Nase hielt.
»Polizei?«, entfuhr es diesem.
»Ganz recht«, erwiderte Thamsen. Ihm entging nicht, wie sich die Mundwinkel seines Gegenübers langsam senkten. Na, der scheint etwas zu verbergen zu haben, schloss er aus der für ihn eindeutigen Geste. Aus seiner jahrelangen Dienstzeit kannte er die unterschiedlichsten Reaktionen, die sein Erscheinen auslöste. Ablehnung, Aggressivität, Widerstand, Angst. Betontes Erstaunen gepaart mit einem gehetzt wirkenden Blick legten seiner Erfahrung nach meist Leute an den Tag, die Dinge zu verheimlichen versuchten.
»Es geht um einen Ihrer Mitarbeiter, Arne Lorenzen. Vielleicht haben Sie gehört …« Er beendete den Satz absichtlich nicht und beobachtete gespannt das Verhalten des Mannes.
»Mitarbeiter? Nein?« Die gleiche gespielt-überraschte Stimmlage.
»Ja, könnten wir vielleicht reingehen?« Thamsen deutete auf den Aktenordner unter seinem Arm.
»Oh, entschuldigen Sie bitte.« Boltwig tat, als habe Thamsens Besuch ihn verwirrt und jegliche Umgangsformen vergessen lassen.
Er machte einen Schritt zur Seite und ließ ihn eintreten. Das Haus des Vermittlers glich in keiner Weise dem des toten Bankers. Die Einrichtung erschien alt und hatte längst ausgedient. Der Teppichboden, der im Büro die Fliesen aus dem Flur ablöste, existierte vor lauter Flecken und Löchern beinahe schon gar nicht mehr.
»Nehmen Sie bitte Platz.« Boltwig wies auf einen Stuhl vor einem Schreibtisch aus Furnierholz, hinter den er sich selbst setzte.
Thamsen musterte kurz den fleckigen Bezug des Polsters, ehe er sich niederließ.
»Sie sagten, es gehe um Arne?« Der Vermittler bemühte sich, seiner Stimme einen möglichst belanglosen Ton zu verleihen, doch seine Körperhaltung verriet die Anspannung. Sein rechtes Augenlid flackerte und mit den Fingern trommelte er leicht auf die Tischkante. »Was ist mit ihm? Gibt es Beschwerden?«
Spielte er nur den Unwissenden oder hatte er tatsächlich keine Ahnung? Thamsen war sich nicht darüber im Klaren. »Nein, Beschwerden weniger. Er ist tot.« Der Klang des letzten Wortes schien in der Stille, die nach seinem Aussprechen folgte, widerzuhallen. Boltwig hatte sein nervöses Geklopfe unterbrochen und starrte ihn mit offenem Mund an. Trotz seiner blassen Gesichtsfarbe war deutlich zu beobachten, wie nun auch die letzten Farbnuancen entwichen.
»Er ist … Ja, wie denn?«
»Ermordet«, antwortete Thamsen nüchtern. Die
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