Todeswatt
steckte. Kleine rote Punkte markierten die Städte, in die Sönke regelmäßig Warentransporte übernommen hatte. Beinahe ganz Süddeutschland war von den Markierungen übersät, aber auch in der näheren Umgebung gab es einige Anlaufstellen.
Sie öffnete die oberste Schublade und fand einen Stapel Rechnungen. Langsam blätterte sie sie durch. Bei jedem weiteren Schreiben spürte sie, wie sich ihre Kehle Stück für Stück zuschnürte und das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, verstärkte sich von Minute zu Minute. Die Situation war noch schlimmer, als sie befürchtet hatte.
Im zweiten Schubfach fand sie Sönkes Terminplaner. Eigentlich war es nicht ihre Art, in seinen Sachen herumzuschnüffeln. Aber in der jetzigen Situation konnte sie einfach nicht umhin, den ledernen Organizer zu öffnen. Die ersten Seiten enthielten die Kalenderblätter des vergangenen Jahres. Anhand der wenigen Eintragungen ließ sich schnell ausmachen, wie lange schon entsprechende Termine und Verhandlungsgespräche mit Kunden fehlten.
Sie blätterte weiter. In den letzten Monaten gab es kaum Notizen, aber ein Vermerk zog plötzlich ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie las, was Sönke in seiner krakeligen Handschrift unter dem Datum des vergangenen Montags notiert hatte:
›18:00 Uhr – Arne Lorenzen‹
9. Kapitel
Haie schwang sich auf sein neongelbes Mountainbike und trat kräftig in die Pedale. Er fuhr immer mit dem Fahrrad. Ob im Sommer oder Winter, bei Sonne oder Regen. Er liebte es, an der frischen Luft zu sein, sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Außerdem hatte er sowieso kaum eine andere Wahl, denn ein Auto konnte er sich nicht leisten. Das Geld war bei ihm schon immer knapp gewesen. So viel verdiente er nicht und von dem Wenigen musste er auch noch die Raten für das ehemals gemeinsame Haus bezahlen. Er hatte es Elke bei der Scheidung überschrieben, da er ansonsten Unterhalt hätte zahlen müssen. Deshalb kam es letztendlich auf dasselbe raus. Ein Wagen war in dieser Situation daher einfach nicht drin.
Den Führerschein hatte er gleich nach seiner Ausbildung gemacht und eine Zeit lang war er mit dem alten VW Käfer seiner Eltern gefahren. Das war allerdings ziemlich lange her und Haie zweifelte, ob er überhaupt noch in der Lage war, ein Auto zu lenken. Tom sagte immer, so etwas verlerne man nicht, aber Haie war sich da nicht so sicher. Außerdem kam er ja auch mit seinem Fahrrad überall hin. Und wenn einmal ein Termin in Flensburg oder Husum anstand, bat er einfach einen seiner Freunde, ihn zu fahren.
Aber heute war sein Weg nicht allzu weit. Er radelte die Dorfstraße entlang Richtung B 5. Unterwegs traf er hier und da einen Bekannten und grüßte flüchtig.
Kurz hinter der Bundesstraße hielt er vor dem Friseurgeschäft und kettete sein Mountainbike an den Metallständer, wo bereits zwei weitere Fahrräder standen.
Neben dem SPAR-Laden und der Gastwirtschaft war der kleine Salon, einer der größten Umschlagplätze für den aktuellsten Dorfklatsch. Hier wurden zwischen Haarschnitt, Färben und Dauerwelle die Neuigkeiten der letzten Tage ausgetauscht. Trennung, Schwangerschaften und neue Anschaffungen, wie zum Beispiel ein Auto, waren beliebte Themen. Momentan, so vermutete Haie, würde allerdings der Mord an Arne Lorenzen Inhalt der Gespräche sein und er hoffte, durch seinen Friseurbesuch ein paar neue Hinweise zu erhalten. Nebenbei konnte er sich gleich die Haare schneiden lassen. Sein letzter Besuch lag einiges zurück und im Nacken kringelten sich die Strähnen zu einer wahren Lockenpracht.
Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht. Als Haie den kleinen Salon betrat, war die Warteecke bereits gut besetzt. Viele Leute nutzten den freien Samstag, um ihre Frisur wieder in Form bringen zu lassen.
Das Geschäft war in zwei Bereiche aufgeteilt. Links vom Eingang befand sich der Damensalon, rechts der Bereich für die Männer. Haie hängte seine Jacke an die Garderobe und setzte sich auf einen freien Stuhl.
»Moin, Chrischen«, grüßte er den Mann neben sich, der interessiert in der Tageszeitung las. »Auch noch fein machen?«
Der Kunde nickte wortlos und widmete sich wieder seiner Lektüre. Haie warf einen neugierigen Blick auf das Blatt, um festzustellen, was seinen Sitznachbarn so fesselte. Es war ein Bericht über die aktuelle Finanzlage an der deutschen Börse. Wieder standen einige der Internetfirmen vor der Pleite und die Kurse befanden sich demzufolge im
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