Todeswatt
Werk mitarbeiten zu dürfen. Zurzeit beschäftigte sie sich mit der ›Regentrude‹. Diese Geschichte von Storm gefiel ihr besonders gut, da sie ihren Lesern bewusst machte, was es bedeutete, arm zu sein. Außerordentlich wertvoll empfand Marlene diese Erzählung für Jugendliche, denen heute oftmals gar nicht klar war, wie gut es ihnen eigentlich ging. Das Märchen vom Lande führte sehr plastisch vor Augen, was Dürre und Trockenheit bewirken konnten.
Sie schrieb ›Die Regentrude‹ auf die Liste für die Übersetzungen und schlug das Buch zu. Als sie es zurück auf den Stapel legte, bemerkte sie die gestrige Zeitung, die zwischen den vielen Büchern lag.
Marlene hatte sie aufbewahrt, da ein Artikel über ihren Chef darin abgedruckt war, der gerade ein neues Buch über das Leben von Hans Mommsen veröffentlicht hatte. Sie nahm eine Schere aus der Schreibtischschublade und machte sich daran, den Bericht auszuschneiden, stutzte aber, als ihr beim Wenden des Papiers wieder der Nachruf von Arne Lorenzen ins Auge fiel. Während sie den kurzen Text erneut las, wunderte sie sich wieder über die Wortwahl des Verfassers. Ganz offensichtlich hatte er mit dem Banker ein Problem gehabt. Man spürte förmlich die Abneigung, die der Autor der Zeilen für den Toten empfunden haben musste. Von Trauer keine Spur.
Plötzlich schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, der Verfasser könne vielleicht etwas mit dem Mord zu tun haben. Obwohl Sönke Matthiesen natürlich der Hauptverdächtige in diesem Fall war. Was aber, wenn sie sich irrten? ›Er ist kein schlechter Mann‹, hatte Inken Matthiesen zu ihr gesagt, nur weil er einmal einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht war dieser Fehler gar nicht der Mord, sondern die Affäre, auf die Inken Matthiesen angespielt hatte.
Marlene überlegte, ob sie Thamsen anrufen sollte. Tom war am Morgen nach Heide gefahren, um das Vorgespräch für einen neuen Auftrag zu führen. Vor dem frühen Nachmittag würde er nicht zurückkehren. Sollte sie auf ihn warten? Nervös rieb sie eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern hin und her. Sie hatte ein komisches Gefühl.
Auf ihrem Schreibtisch lag das regionale Telefonbuch. Sie schlug es auf und suchte die Nummer der Zeitungsredaktion in Husum heraus. Bereits nach dem zweiten Klingeln wurde abgehoben.
»Ja, hallo«, meldete sie sich aufgeregt. »Mein Name ist Marlene Schumann. Ich bräuchte eine Auskunft bezüglich eines Abdrucks aus der gestrigen Ausgabe.«
Die Dame von der Redaktion sagte lediglich: »Einen Moment bitte.« Es knackte kurz in der Leitung, dann erklang eine angenehme Melodie.
»Ja, bitte?«
Marlene zuckte zusammen, als eine dunkle Männerstimme die fröhliche Tonfolge unterbrach, fing sich allerdings schnell und trug ihr Anliegen vor.
»Ach«, tönte es aus dem Hörer, »dafür ist mein Kollege Marcel Petersen verantwortlich. Is’ ein freier Mitarbeiter von uns und heute leider nicht im Haus. Kann ich was ausrichten?«
Marlene war überrascht, dass der Mann ihr sofort den Namen nennen konnte. Anscheinend hatten die Zeilen auch in der Redaktion Aufsehen erregt. »Nicht nötig«, entschied sie sich gegen eine Nachricht. »Wann kann ich ihn denn erreichen?«
»Moment.«
Sie hörte ein Rascheln, so als ob die Sprechmuschel verdeckt wurde, anschließend war etwas leiser als zuvor die dunkle Männerstimme zu vernehmen.
»Renate, weißt du, wann der Marcel wieder da ist?«
Aus dem Hintergrund war ein Gemurmel zu hören. Kurz darauf meldete sich ihr Gesprächspartner zurück.
»Am Freitag können Sie ihn erreichen. Da gibt er Texte für die Wochenendausgabe ab.«
*
Das Gespräch in Heide war sehr zufriedenstellend gelaufen. Tom hatte den Job so gut wie in der Tasche. Das war auch dringend notwendig. Zwar konnte er von seinen bisherigen Verdiensten als Unternehmensberater problemlos leben, aber durch die Kurseinbrüche an der Börse war es momentan unmöglich, auf finanzielle Reserven zurückzugreifen. Und wer konnte vorhersagen, wann die Papiere sich erholen würden. Wenn sie es denn überhaupt taten. Bei einigen Aktienwerten war er sich nicht sicher, ob sie je wieder den Betrag erreichten, zu dem er sie gekauft hatte. Da kam ihm ein lukrativer neuer Auftrag gerade recht. Vor allem, weil er demnächst nicht mehr nur für sich allein zu sorgen hatte. In wenigen Wochen würde Marlene seine Ehefrau sein. Natürlich fühlte er sich auch jetzt für sie verantwortlich, aber durch die Hochzeit bestätigten sie ganz offiziell
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