Todeswatt
nicht sicher, ob der Festgenommene den Anschuldigungen so locker begegnete, weil er wusste, man konnte ihm nichts nachweisen, oder weil er tatsächlich nichts mit dem Mord zu tun hatte. Er beobachtete den Mann mit Argusaugen.
»Ja, ich war mit Arne Lorenzen verabredet. Er hat mich angerufen, weil er angeblich mit mir über die Aktien sprechen wollte.« Sie hätten sich in der Spedition treffen wollen, aber er sei nicht gekommen.
»Und Sie haben dort den ganzen Abend auf ihn gewartet? Warum sind Sie nicht nach Hause gegangen, als er nicht zum vereinbarten Zeitpunkt kam? Haben Sie ihn angerufen?«
Ja, er habe ihn angerufen, aber der Banker sei nicht ans Telefon gegangen. Nur die Mailbox. Darauf habe er ein paar unschöne Sätze hinterlassen. Nach Hause sei er nicht gegangen, weil er seiner Frau nicht begegnen wollte. »Ich hatte mir ein oder zwei Schnäpse im Büro gegönnt. Wenn ich mit einer Fahne heimgekommen wäre, hätte die mir wieder eine Riesenszene gemacht.«
Wahrscheinlich zu Recht, dachte Thamsen, auch wenn ihm die Schilderungen des Spediteurs relativ glaubwürdig erschienen und ihn langsam das Gefühl beschlich, nicht den Mörder von Arne Lorenzen vor sich sitzen zu haben.
»Und wieso hat man Sie dann auf Pellworm gesehen?«
Er bestreite ja gar nicht, jemanden auf der Insel zu kennen, äußerte Matthiesen. Nur am Montag sei er nicht dort gewesen, weil seine Freundin an diesem Tag keine Zeit hatte. »Da war ihr Mann zu Hause. Der arbeitet nämlich Schichtdienst im Krankenhaus in Husum und am Montag hatte er frei.«
Thamsen schüttelte kaum merklich den Kopf. Gab es auf dieser Welt überhaupt noch Menschen, die treu waren? Er verachtete derartiges Verhalten zutiefst. Natürlich konnte er verstehen, wenn die Liebe, die man füreinander empfunden hatte, mit der Zeit nachließ – vielleicht auch ganz verschwand. Aber konnte man nicht für klare Verhältnisse sorgen, bevor man hinter dem Rücken des anderen ein neues Verhältnis einging?
»Und am Dienstag waren Sie dann auf Pellworm?«
Sönke nickte. Aber nur kurz. Momentan beschäftige er ja diesen Unternehmensberater und der habe sich am späten Nachmittag mit ihm treffen wollen. »Nur auf ’nen Quickie.« Er grinste wieder.
Thamsen stieß sich von seinem Schreibtisch ab. Es kostete ihn einige Überwindung, sich im Zaum zu halten. Doch wenn es stimmte, und der Spediteur erst am Dienstag auf der Insel gewesen war, konnte er nicht der Mörder sein. Laut Obduktionsbericht war der Banker mindestens zwei Tage tot gewesen. Es sei denn, Sönke Matthiesen hatte seine Geliebte bereits einige Tage zuvor besucht.
»Wann haben Sie sich das letzte Mal mit Ihrer Geliebten getroffen?«
Der Verhörte tat, als überlege er angestrengt. »Ist schon eine Weile her.« Deswegen sei er so scharf darauf gewesen, sie letzte Woche Dienstag zu sehen. Er hätte ordentlich Druck gehabt, wenn der Kommissar verstehe, was er meine. Sonst wäre er nicht die weite Strecke nach Pellworm gefahren, um die Freundin zu treffen.
Thamsen verzog krampfhaft das Gesicht. Dieser Mann widerte ihn an. Er hatte genug von diesen schmierigen und ungenauen Angaben, erhob sich von seinem Stuhl und schaute auf den anderen hinab. »Also, wann waren Sie auf der Insel und wie heißt die Frau?«, fragte er mit resoluter Stimme.
Sönke Matthiesen druckste plötzlich herum. Ob er den Namen wirklich preisgeben müsse, es handele sich doch um eine sehr intime Angelegenheit.
»Herr Matthiesen, wollen Sie mich nicht verstehen? Hier geht es um Mord. Also, wie lautet der Name?« Thamsen schrie beinahe.
Sein Gegenüber räusperte sich und murmelte etwas vor sich hin.
»Wie bitte?«
»Michaela Bendixen.«
*
Marlene ordnete einige Unterlagen auf ihrem Schreibtisch, ehe sie sich setzte und nach einem Buch griff, welches zuoberst auf einem der vielen Stapel lag. Momentan arbeitete sie neben dem Projekt über Wiedergänger parallel an einem neuen Vorhaben des Instituts über Theodor Storms Märchen. Von ›Der kleine Häwelmann‹ gab es bereits seit einiger Zeit eine friesische Übersetzung. Nun überlegte man, noch weitere Texte in friesischer Sprache zu veröffentlichen. Marlene hatte sich zwar eine druckreife Übertragung nicht zugetraut –, auch wenn sich ihre Friesischkenntnisse in der letzten Zeit enorm verbessert hatten – aber sie war an der Auswahl der Stücke beteiligt und sollte jeweils ein paar einleitende Worte zu den Märchen verfassen. Es war für sie eine große Ehre, an solch einem
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