Todeszauber
Eine Minute? Zwei Minuten? Wie lange kann ein Mensch ohne Luft überleben? Drei Minuten? Vier Minuten? Reichweilers Konturen verschwammen, ich wurde ohnmächtig. Alles schwarz. Ich öffnete den Mund …
… und schnappte nach Luft. Schnellte hoch und brauchte noch einige Sekunden, bis ich wieder atmen konnte. Saß auf Pias Couch und sog den herrlichen Sauerstoff ein. Dann sank ich auf das Kissen zurück und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Atemaussetzer im Schlaf hatten mich schon öfter geweckt. Doch noch nie waren sie von einem derart überzeugenden Albtraum begleitet gewesen.
Draußen wurde es hell. Ein weiterer sonniger Herbsttag kündigte sich an. Mit Temperaturen, die für die Terrasse eines Cafés an der Außenalster oder einen Spaziergang an der Elbe reichten. Im letzten Herbst hatten Pia und ich ganze Wochenenden so verbracht. Als wir noch über Dinge reden konnten, die nichts mit Arbeit, Tod und Verbrechen zu tun hatten. Als es so aussah, als würden wir uns Schritt für Schritt näherkommen.
Ich schlug die Decke zurück und stand auf. Daniela Hansen kam mir in den Sinn. Ich sah sie mit bedrückter Miene in ihrem Wohnzimmer-Empfang sitzen, vor einem gedeckten Frühstückstisch, der schon wieder unberührt bleiben würde. Falls ich noch mal nach Hamburg kommen sollte, musste ich unbedingt in einem großen, anonymen Hotel absteigen. Wo sich niemand Sorgen um mich machte.
Nachdem ich mich angezogen hatte, schlurfte ich in die Küche.
»Was machst du da?« Pia stand im Morgenmantel in der Tür. Ihre schlanken Beine sahen göttlich aus. Ich überlegte, was wohl passieren würde, wenn ich zu ihr ging und den Gürtel öffnete.
»Ich suche den Kaffee.«
»Im Hängeschrank oben links.« Sie gähnte. »Wieso bist du so früh auf?«
»Ich hatte einen Albtraum.«
Ihre Antwort beschränkte sich auf ein Brummen. Ob mitfühlend oder schlecht gelaunt, war nicht auszumachen. Immerhin weckte das Geräusch weitere Erinnerungen. Als eingefleischte Morgenmuffel hatten wir vor und während des Frühstücks selten viel geredet. Damals.
Ich schaufelte Kaffee in den Filter. »Ich hole Brötchen. Einverstanden?«
Sie brummte erneut. »Ich bin unter der Dusche.«
Eine halbe Stunde später saßen wir am Frühstückstisch und besprachen unser weiteres Vorgehen. Dass es sich lohne, Frau Reichweiler zu besuchen, um Herrn Reichweilers Geschichte zu überprüfen. Pias lange Haare glänzten feucht. Sie trug ein enges T-Shirt und Jeans. Während wir diskutierten, dachte ich an eine Kanufahrt, die wir mal unternommen hatten. Wie wir unter überhängenden Bäumen auf einem der kleinen Kanäle die Paddel hochgenommen und uns auf den mit Kissen gepolsterten Boden des kleinen Bootes gelegt hatten.
Mein Handy klingelte.
»Was tun Sie, Georg?«, fragte Anna Ortega.
»Ich frühstücke.«
Ich schaute zu Pia, die fragend ihre Augenbrauen hochzog. Mit den Lippen formte ich ein lautloses Anna.
»Eigentlich wollte ich wissen, was Sie machen, um den Mörder meines Mannes zu finden. Und den von Isabel. Wenn Sie gerade nicht frühstücken.«
»Ich habe schon einiges herausgefunden.« Selbst für mich klang der Satz nach schlechtem Gewissen. Ausführlich schilderte ich, wie ich auf die Spur von Reichweiler gekommen war, ebenso detailliert malte ich die Begegnung im Büro des Reeders aus. Um zu kaschieren, dass ich die letzten beiden Tage mehr an Pia als an den Fall gedacht hatte.
»Glauben Sie, Reichweiler hat Isabel getötet?«, fragte Anna.
»Er behauptet, ein Alibi zu haben. Aber ich bin davon überzeugt, dass er mehr weiß, als er zugeben will. Wir … ich meine, ich werde an ihm dranbleiben.«
»Wir?« Anna hatte meinen Versprecher bemerkt.
»Eine Kollegin aus Hamburg, die mit mir zusammenarbeitet. Sie kannte Isabel. Isabel war ihre Tanzlehrerin.«
Pia schüttelte den Kopf und begann, den Tisch abzuräumen.
»Ah«, sagte Anna. »Ich habe auch etwas entdeckt. In Stefanos Timer.« Sie sprach es Tiemer aus und ich begriff zunächst nicht, was sie meinte.
»Sein diario.«
»Tagebuch. Und was?«
»Ein Name. Sein Kontaktmann in Hamburg. Offenbar der, der ihn bezahlt hat.«
»Und wie heißt der Mann?«
»Cagliostro.«
»Cagliostro?«
Sie schnaufte wie eine Lehrerin, die es mit einem besonders begriffsstutzigen Schüler zu tun hat. »Das ist bestimmt nicht sein richtiger Name. Finden Sie heraus, wer er ist, Georg. Cagliostro kann Ihnen sagen, was bei Stefanos letztem Auftritt in Hamburg passiert ist. Verstehen
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