Todeszauber
mit Sicherheit ganz oben stehen.
»Ich denke, wir sollten verschwinden«, sagte ich.
Sie nickte. »Gut. Dann gehen wir.«
Ein paar Minuten später saßen wir in dem Coffeeshop neben meinem Hotel. Bei einem Milchkaffee und morgendlichem Sonnenlicht verblassten die Schrecken des Zauberkastens. So unauffällig wie möglich hatte ich Annas Kleidung gemustert und zu meiner Erleichterung keine Blutspritzer entdeckt. Wer auch immer das Massaker in Kemmers Showroom veranstaltet hatte, der oder die Täter hatten sich mehr als nur die Hände schmutzig gemacht. Und obwohl mir in meinem bisherigen Leben einige übel zugerichtete Leichen begegnet waren, wollte ich lieber nicht darüber nachdenken, was es bedeutete, bei lebendigem Leib zersägt zu werden.
Anna hockte müde auf ihrem Stuhl. Nachdem wir den Zauberkasten verlassen hatten, war sämtliche Energie aus ihr gewichen. Ein mit Verzögerung eintretender Schock, vermutete ich. Auf einmal war es mir peinlich, dass ich mich vor ihr gefürchtet hatte.
»Wie funktioniert eigentlich die zersägte Jungfrau?«, fragte ich.
»Was?«
»Die Nummer haben Stefano und Sie doch auch in Münster vorgeführt.«
»Ach so.« Sie kehrte aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück. »Das ist ganz einfach. Haben Sie einen Schreiber?«
Ich gab ihr meinen Kugelschreiber und sie malte ein Rechteck auf ihre Serviette. »Das ist die Kiste. Sie besteht aus zwei Hälften.« Sie teilte das Rechteck mit einem Strich. »In der Mitte ist ein Schlitz für die Säge. Wenn Stefano die Kiste schließt, rolle ich mich in der einen Hälfte zusammen.« Sie zeichnete ein verdrehtes Strichmännchen in das rechte Kästchen. »Comprende?«
»Soweit schon«, sagte ich. »Aber wir konnten die ganze Zeit Ihre Beine sehen. Hier!« Ich tippte auf den Rand des linken Kästchens. »Wie haben Sie das gemacht?«
»Das war nicht ich.« Sie lächelte verschmitzt. »Das waren Prothesen. Spezialanfertigungen nach meinen Beinen. Selbe Hautfarbe, selbe Schuhe. Sie zappeln, weil sie an eine Batterie angeschlossen sind. Man kann auch eine zweite Frau nehmen.« Sie malte ein zweites Strichmännchen in das linke Kästchen. »Sie verschwindet im Unterbau …«, das Rechteck bekam einen quadratischen Sockel, »… bevor die Kiste wieder geöffnet wird.«
»Verstehe«, sagte ich und lobte mich dafür, dass es mir gelungen war, Anna auf andere Gedanken zu bringen. »Wenn man’s weiß, ist es wirklich einfach.«
»Jason Sinclair war zu dick, um sich zu rollen.« Anna schaute mich an. »Wer hat das getan, Georg?«
Ich erzählte ihr von der Theorie, die Pia und ich entwickelt hatten.
»Und warum hat mir Stefano kein Wort davon gesagt?«, protestierte Anna. »Das glaube ich nicht.«
»Weil er vor Reichweiler und seinen Logenbrüdern Angst hatte. Zu Recht, wie wir jetzt wissen. Er fürchtete wohl, Sie könnten in Gefahr geraten, wenn er Sie einweihen würde.«
»Einweihen? Was einweihen?«
»Ihnen alles erzählen würde.«
»Wie kann er …« Sie schlug so heftig auf den Tisch, dass die Kaffeetasse klirrte. Vom Nebentisch schaute ein junger Rucksacktourist herüber.
»Nicht so laut!«, bat ich.
Sie presste ihre Hände vors Gesicht.
»Stefano ist tot und Sie leben«, sagte ich. »Ist das nicht Grund genug?«
Ihre Augen waren feucht, als sie mich anschaute. »Sie denken, er wollte mich schützen?«
»Ja, das denke ich. Er wusste, dass man das, was in der Loge passiert ist, vertuschen würde. Wäre er zur Polizei gegangen, hätte das wahrscheinlich gar nichts gebracht.« Zumindest war das die Version, die es Anna erleichtern würde, Monettis Verhalten zu akzeptieren.
Anna dachte nach. »Als ich Stefanos Sachen durchsucht habe, habe ich etwas entdeckt: Er hatte diesmal mehr Geld als sonst aus Hamburg mitgebracht.«
»Sie wollten ihn in Sicherheit wiegen.«
»Nein.« Sie schüttelte ihre Locken. »Das ist nicht mein Stefano.«
Ich schwieg.
»Und wieso …«, flüsterte sie heiser, »… wieso hat man ihn erst bezahlt und dann …«
»Diese Leute gehen kein Risiko ein. Deshalb haben sie gewartet, bis Stefano zurück in Münster war. So fiel nicht auf, dass es eine Verbindung nach Hamburg gibt. Der Polizei fehlt das Wichtigste für einen Mord, nämlich das Motiv.«
»Maldita sea!« Sie griff sich an den Kopf. »Haben Sie ein Aspirin?«
Für den Notfall hatte ich immer ein kleines Depot in der Jackentasche. Die rosafarbene Kautablette verschwand zwischen ihren blütenweißen Zähnen. »Und warum wurde dann auch
Weitere Kostenlose Bücher