Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
»Sie bekommen sie selbstverständlich zurück.« Sie glaubte nicht, dass Charlotte daran überhaupt Interesse hatte. Und wie erwartet, sagte sie auch nichts dazu.
Jennifer wechselte das Thema. »Wie sieht es mit Verwandtschaft aus? Wir haben keine Informationen über die Familie Ihrer Mutter gefunden.«
»Ich kenne niemanden. Die Eltern meiner Mutter sind früh gestorben.« Leiser, kaum zu bemerkender Zweifel begleitete ihre Antwort.
»In Ihren Akten steht, dass Ihre Mutter Sie alleine großgezogen und den Vater niemals angegeben hat.« Jennifer sah sie fragend an. Nachdem Charlotte nun etwas gesprächiger geworden war, versuchte sie, ihr nicht mehr nur direkte Fragen zu stellen.
»Ich kenne meinen Vater nicht, und ich weiß nicht einmal, ob meine Mutter ihn kannte.« Charlottes Blick wanderte zur Tischplatte. Dieses Thema war ihr offensichtlich unangenehm. »Sie wollte nie über ihn sprechen.«
Für ein paar Sekunden herrschte bedrücktes Schweigen.
Langsam begann Jennifer zu verstehen, warum das psychologische Gutachten, das während der Ermittlungen zu der von Charlotte begangenen Körperverletzung erstellt worden war, den Ursprung ihrer Probleme in ihrer Kindheit sah. Ein liebevolles, funktionierendes Familienumfeld sah definitiv anders aus.
Seit ihrer Jugend hatte Charlotte Seydel mehr als einen Therapeuten aufgesucht, teils freiwillig, doch erst die Polizeipsychologen hatten ihrem markanten Verhalten einen Namen gegeben: emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus.
Die Beschreibung dieser von Impulsivität und mangelnder psychischer Stabilität gekennzeichneten Störung las sich fast wie eine Liste der bei Charlotte Seydel beobachteten Auffälligkeiten: eingeschränkte bis hin zu fehlender Aggressionskontrolle, intensive und schädliche Beziehungen, ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken, Drogenmissbrauch, häufig ungeschützt ausgelebte Promiskuität, Selbstverletzung.
Ihr Lebensweg war ähnlich wie ihre Erkrankung verlaufen: ein ständiger Wechsel von Höhen und Tiefen. Wenn sie in Therapie war und diese ernsthaft verfolgte, hatte sie meist länger andauernde gute Phasen gehabt, denen irgendeine schlecht verlaufende Beziehung dann aber nachhaltig ein Ende gesetzt hatte.
Die Schule hatte Charlotte ein Jahr vor dem Abitur wegen eines zwanzig Jahre älteren, verheirateten Mannes verlassen. Nachdem sie sich – dank einer Einweisung in die Psychiatrie wegen ihres selbstverletzenden Verhaltens – soweit gefangen hatte, dass sie Ziele entwickeln und die Hochschulreife nachholen konnte, hatte sie sich mithilfe ihres damaligen Therapeuten sogar einen Platz an der Privatuni in Lemanshain erkämpft.
Danach war alles in für Charlotte Seydels Verhältnisse nahezu perfekten Bahnen verlaufen. Bis erneut ein Mann in ihr Leben getreten war und das Ganze von vorne begonnen hatte.
Es betrübte Jennifer jedes Mal aufs Neue, wenn sie mitbekam, was eine unglückliche Kindheit auf Dauer anrichten konnte. Zwar stellten Charlottes aktuelle Therapeutin und ihre Bewährungshelferin der jungen Frau im Moment günstige Prognosen, doch auch die standen auf wackeligen Beinen.
Als sie spürte, dass sie Mitleid mit Charlotte zu empfinden begann, lenkte Jennifer ihre Konzentration auf das Gespräch zurück. Sie deutete auf das Amulett, das noch immer in dem Beweismitteltütchen zwischen ihnen lag. »Auf dem Anhänger stehen die Namen Heinz und Ursula sowie die Jahresangabe 1966. Wissen Sie, wer Heinz und Ursula sind?«
Charlotte zuckte die Schultern. »Ich habe meine Mutter danach gefragt, aber sie sprach nicht gerne darüber. Das waren, glaube ich, meine Großeltern. Sie werden 1966 geheiratet haben, nehme ich an.«
Jennifer äußerte sich nicht dazu. Sie hatte das schon überprüft, hatte alle möglichen Quellen angezapft, jedoch keinerlei Verwandte aufspüren können.
Die Familiengeschichte von Katharina Seydel war ohnehin ein kleines Mysterium. Genauer gesagt, sie war nicht existent.
Jennifer hatte schon von vielen Fällen gehört, in denen die behördlichen Dokumente während des Digitalisierungsverfahrens verloren gegangen waren, ihr Gefühl sagte ihr jedoch, dass auch Anfragen an die Archive nichts erbringen würden.
Schuld daran war ein kleines Detail. Eine Aktennummer, die beim Einwohnermeldeamt vermerkt worden war, als Katharina Seydel 1988 nach Lemanshain gezogen war. Eine Aktennummer, die Jennifer keiner Behörde hatte zuordnen können. Eine erste Suche in den Systemen dazu hatte keinerlei
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