Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
wusste es. Ob er es nun lediglich erraten oder von Anfang an gewusst hatte, spielte keine Rolle mehr. »Und wenn schon.«
»Cool.« Er nickte und schien das tatsächlich ernst zu meinen. »Du bist risikobereit. Gefällt mir.«
Auch wenn ihre innere Stimme ihr zuflüsterte, dass er sie nicht verraten würde, hatte Charlotte plötzlich das dringende Bedürfnis, die Unterhaltung zu beenden.
Sie warf einen Blick auf die Uhr ihres Notebooks und schenkte ihm dann ein entschuldigendes Lächeln. Irgendwie war es ihr wichtig, ihm zu signalisieren, dass ihre plötzliche Flucht nicht seine Schuld war. Zumindest nicht seine alleinige. »Ich muss los.«
Sie klappte den Bildschirm des Computers zu, stand auf und stopfte das Gerät in ihren Rucksack. Ihr Blick streifte kurz die Bücher, die sie eigentlich in die Regale zurückstellen musste. Verdammt!
»Das kann ich für dich erledigen.« Er lächelte. Er lächelte tatsächlich, obwohl so offensichtlich war, dass sie ihm zu entkommen versuchte.
»Äh … Ja, danke, das wäre … nett.« Sie schulterte ihren Rucksack.
»Werde ich dich wiedersehen?«
Sie verharrte in der Bewegung, überrascht von der Frage. Erneut blieb sie an seinen Augen hängen und erwiderte sein Lächeln unwillkürlich. »Vielleicht.«
Charlotte hatte das Ende der Regalreihe fast erreicht, als er ihr hinterherrief: »Würdest du mir zum Abschied noch deinen Namen sagen?«
Sie drehte sich um, ging rückwärts und musste grinsen. Wieso, verdammt noch mal, brachte sie diese Frage zum Grinsen? »Verrate ich dir beim nächsten Mal. Vielleicht.«
10
Charlottes Wochenplan sah eigentlich vor, dass sie an diesem Mittwoch nach Würzburg an die Uni fuhr.
Ihre Pläne änderten sich jedoch schlagartig, als sie am Morgen einen Umschlag aus dem Briefkasten vor dem Grundstück zog. Er musste am späten Abend eingeworfen worden sein, denn sie hatte den Kasten gewohnheitsmäßig überprüft, als sie um halb acht nach Hause gekommen war.
Der Brief war nicht abgestempelt und trug keinen Absender. In Druckbuchstaben stand lediglich ihr Name darauf: Charlotte Seydel. Und darunter wie eine Feststellung: Tochter.
Dieses eine Wort berührte sie unerwartet heftig. Ihr Herz begann zu rasen. Auf die Gefahr hin, ihren Bus zu verpassen, blieb sie auf dem Kiesweg stehen. Sie öffnete den Umschlag und zog einen Zeitungsausschnitt heraus.
Verwirrt starrte sie auf den unvollständig ausgeschnittenen Artikel, dann kam sie auf die Idee, ihn umzudrehen.
Sie hielt die Todesanzeige ihrer Mutter in der Hand.
Eine einfache, kleine, zweifach gerahmte Anzeige mit Name, Geburts- und Sterbejahr sowie dem Hinweis, dass die Beerdigung im engsten Familienkreis erfolgen werde und man von Kondolenzschreiben absehen solle.
Charlotte spürte, wie sich etwas in ihrer Brust schmerzhaft zusammenzog. Ihre Hand zitterte.
Es war die am Ende der Anzeige stehende Signatur, die sie derart aus der Fassung brachte.
»Ch. Seydel, liebende Tochter«, stand dort.
Unvermittelt schossen ihr Tränen in die Augen. Die Kehle schnürte sich ihr zu, und der Druck in ihrer Brust machte ihr das Atmen zusätzlich schwer. Sie versuchte mit aller Kraft dagegen anzukämpfen, aber vergeblich.
Ihre Hand krampfte sich um die Anzeige und zerknüllte das Papier. Jede Faser ihres Körpers schien wehzutun. Ihre Beine drohten nachzugeben, und die Welt um sie herum geriet ins Wanken. Mit einem kaum wahrnehmbaren Schrei, der ihr trotzdem schmerzhaft in den Ohren klang, brach sie schließlich vollends zusammen.
Als Charlotte irgendwann am Nachmittag aufwachte, wusste sie nicht einmal mehr, wie sie in ihren Wohnwagen gekommen war.
Sie verstand nicht, was überhaupt mit ihr los war. Bisher hatte sie nicht getrauert. Keine einzige Träne hatte sie um ihre Mutter vergossen. Zwar hatte sie ein gewisses Bedauern gespürt und sogar Mitleid, weil es nicht besonders schwer war, sich vorzustellen, dass ihre Mutter vor ihrem Tod Höllenqualen erlitten hatte. Doch eigentlich hatte Charlotte geglaubt, dass sie zu echter Trauer nicht imstande war.
Schließlich hatten sie und ihre Mutter sich nie nahegestanden. Ihre Mutter hatte ihr von Anfang an weder Liebe noch Fürsorge entgegengebracht und sich auch nicht wirklich um sie oder ihre Probleme gekümmert. Sie hatte ihr lediglich Kleidung, Essen und ein Zimmer (Zuhause wollte sie es nicht nennen) zur Verfügung gestellt.
Tief in ihrem Innern hatte Charlotte die Ablehnung ihrer Mutter gespürt, auch wenn sie sie nie verstanden hatte.
Als
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