Todeszeit
hochgebracht hat. Geduldig führt der Kidnapper sie hinunter, aber da sie sich nicht am Geländer festhalten kann, macht sie ganz vorsichtige Schritte.
Sie war tatsächlich auf dem Dachboden eingesperrt, denn es geht erst hinab ins Obergeschoss, dann ins Erdgeschoss und dort weiter in eine Garage. »Jetzt kommt ein Absatz«, sagt der Mann. »Sehr gut. Zieh den Kopf ein! Und nun nach links. Pass hier auf. Achtung, eine Schwelle!«
In der Garage hört sie, wie er die Tür eines Fahrzeugs öffnet.
»Das ist der Lieferwagen, mit dem du hergekommen bist«, sagt er und hilft ihr durch die Hecktür in den Laderaum. Der Teppichboden riecht genauso übel, wie sie es in Erinnerung hatte. »Leg dich auf die Seite!«
Er klettert hinaus und schlägt die Tür zu. Das unverkennbare metallische Geräusch eines Schlüssels im Schloss macht jeder Hoffnung, sie könnte auf der Fahrt irgendwann flüchten, sofort ein Ende.
Die Fahrertür geht auf, und der Mann setzt sich ans Lenkrad. »Das Führerhaus hat zwei Sitze und ist zum Laderaum hin offen. Deshalb hörst du mich so deutlich. Das tust du doch, oder?«
»Ja.«
Er zieht die Tür zu. »Wenn ich mich auf meinem Sitz umdrehe, kann ich dich sehen. Auf der Fahrt hierher saßen zwei Männer bei dir, um dafür zu sorgen, dass du dich ruhig verhältst. Jetzt bin ich alleine. Deshalb … wenn wir irgendwo unterwegs an einer roten Ampel halten und du meinst, man könnte draußen dein Schreien hören, muss ich anders mit dir umspringen, als es mir lieb ist.«
»Ich werde nicht schreien.«
»Gut. Aber lass es mich bitte genauer erklären. Auf dem Beifahrersitz liegt neben mir eine Pistole mit Schalldämpfer. Sobald du zu schreien anfängst, greife ich danach, drehe mich um und erschieße dich. Das Lösegeld bekomme ich auf jeden Fall, egal, ob du tot oder am Leben bist. Hast du verstanden?«
»Ja.«
»Das hat kalt geklungen, nicht wahr?«, fragt er.
»Ich verstehe … deine Position.«
»Sei ehrlich. Es hat doch kalt geklungen.«
»Ja.«
»Überleg mal Folgendes: Ich hätte dich knebeln können, habe es jedoch nicht getan. Ich hätte dir einen Gummiball in den hübschen Mund schieben und dir anschließend die Lippen mit Isolierband zukleben können. Das wäre mir doch leichtgefallen, oder?«
»Ja.«
»Weshalb habe ich es dann nicht getan?«
»Weil du weißt, dass du mir vertrauen kannst«, sagt Holly.
»Ich hoffe , dass ich dir vertrauen kann. Und weil ich ein hoffnungsvoller Mensch bin, der jede Stunde seines Lebens voller Hoffnung lebt, habe ich dich nicht geknebelt, Holly. Eine Vorrichtung, wie ich sie gerade beschrieben habe, ist wirkungsvoll, aber äußerst unangenehm. Ich will nicht, dass
so etwas Unangenehmes zwischen uns steht … in der Hoffnung auf Guadalupita.«
Inzwischen hat Holly besser gelernt, sich zu verstellen, als sie es noch vor einem Tag für möglich gehalten hätte.
Mit einer Stimme, die überhaupt nicht verführerisch klingt, sondern feierlich und respektvoll, wiederholt sie die Namen der von ihm genannten Orte, um ihm vorzugaukeln, er habe sie tatsächlich in den Bann geschlagen: »Guadalupita, Rodarte, Rio Lucio, Penasco, wo sich dein Leben verändert hat, und Chamisal, wo es sich auch verändert hat, Vallecito, Las Trampas und Espanola, wo sich dein Leben wieder ändern wird.«
Er schweigt einen Augenblick. »Es tut mir leid, dass du jetzt so unbequem daliegen musst, Holly«, sagt er dann. »Bald ist es vorbei, und dann wartet auf dich die Transzendenz … wenn du sie willst.«
58
Die Fassade des Waffengeschäfts war vom Baustil der Haushaltswarenläden in zahllosen Westernfilmen beeinflusst. Ein Flachdach, mit vertikalen Latten verschalte Wände, ein überdachter Gang entlang der ganzen Front und ein Pfosten zum Anbinden von Pferden erweckten den Eindruck, jeden Moment könnte John Wayne aus der Tür treten, gekleidet in eine Südstaatenuniform wie in dem John-Ford-Epos Der schwarze Falke .
Mitch fühlte sich allerdings weniger wie John Wayne als wie ein Nebendarsteller, der schon in der zweiten Szene erschossen wird, während er auf dem Parkplatz des Geschäfts in seinem Wagen saß und die Pistole untersuchte, mit der er Campbells Vollstrecker überwältigt hatte.
In den Stahl, falls es sich überhaupt um Stahl handelte, waren mehrere Informationen eingraviert. Teilweise waren es Zahlen und Buchstaben, mit denen er nichts anfangen konnte. Es gab aber auch nützliche Informationen für jemanden, der von Handfeuerwaffen nicht die leiseste
Weitere Kostenlose Bücher