Todeszeit
spürt sie diesen Atem auf den Lippen.
Wenn er das ist – und im Herzen weiß sie, dass dieses »wenn« reine Illusion ist –, dann lässt er sich nicht unterscheiden von der Finsternis, obwohl er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt ist.
Die Dunkelheit des Raumes ruft in Holly ein düsteres Bild hervor. Sie stellt sich vor, dass der Mann nackt vor ihr kniet. Sein fahler Körper ist mit geheimnisvollen Symbolen geschmückt. Gemalt sind diese mit dem Blut der Menschen, die er getötet hat.
Nur mit Mühe gelingt es ihr, eine immer heftigere Furcht aus ihrer Stimme zu verbannen, als sie fragt: »Du hast schon viele Zeichen gesehen, nicht wahr?«
Der Atem, der Atem, der Atem auf ihren Lippen, aber doch kein Kuss, und dann auch kein Atem mehr, weil er sich zurückzieht. »Sehr viele«, sagt er. »Ich habe ein Auge dafür.«
»Erzähl mir doch bitte von einem.«
Er schweigt. Sein Schweigen ist ein scharfes, bedrohliches Gewicht, ein Schwert über ihrem Kopf.
Vielleicht fragt er sich allmählich, ob sie mit ihren Kommentaren wohl versucht, den Kuss zu verhindern.
Falls das überhaupt möglich ist, muss sie vermeiden, ihn zu beleidigen. So wichtig es ist, hier herauszukommen, ohne gegen ihren Willen berührt zu werden, es ist ebenso wichtig, diesen Mann dabei nicht von der ebenso merkwürdigen wie dunklen romantischen Fantasie abzubringen, die ihn ergriffen hat.
Offenbar hat er den Eindruck, sie werde sich am Ende entscheiden, mit ihm nach Guadalupita, New Mexico, zu gehen, um das Staunen zu lernen. Solange er an diesem Glauben festhält, in dem sie ihn behutsam bekräftigt hat, ohne Verdacht zu erwecken, ist sie vielleicht in der Lage, sich dann, wenn es wirklich darauf ankommt, einen entscheidenden Vorteil zu verschaffen.
Als sein Schweigen ihr schon bedenklich lange vorkommt, sagt er endlich: »Es war gerade, als der Sommer in jenem Jahr in den Herbst überging. Alle sagten, die Vögel seien früher als sonst nach Süden gezogen und man würde Wölfe sehen, wo sie schon ein Jahrzehnt nicht mehr aufgetaucht waren.«
Argwöhnisch sitzt Holly im Dunkeln, ganz aufrecht, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Der Himmel sah ganz hohl aus. Man hatte das Gefühl, ihn mit einem Steinwurf zertrümmern zu können. Warst du schon einmal in Eagle Nest, New Mexico?«
»Nein.«
»Ich fuhr damals auf einer schmalen Landstraße von Eagle Nest nach Süden, mindestens zwanzig Meilen östlich von Taos. Am anderen Straßenrand kamen mir zwei Mädchen entgegen, die nach Norden trampen wollten.«
Am Dach hat der Wind eine neue Nische oder einen Vorsprung gefunden, wo er eine weitere Stimme erheben kann. Dort imitiert er nun den heulenden Schrei jagender Kojoten.
»Sie waren im Studentenalter, aber keine Collegegirls. Es waren ernsthaft Suchende, das sah man. Voll Zuversicht marschierten sie dahin mit ihren festen Stiefeln, ihren Rucksäcken und Wanderstöcken und mit ihrer ganzen Erfahrung. «
Er macht eine Pause, entweder der dramatischen Wirkung wegen, oder weil er die Erinnerung nachkostet.
»Ich sah das Zeichen und wusste sofort, dass es tatsächlich eines war. Über den Köpfen der beiden flog mit weit ausgebreiteten Flügeln ein schwarzer Vogel. Das tat er, ohne zu flattern; er schwebte so mühelos in der Thermik, dass er sich kein bisschen schneller oder langsamer bewegte, als die zwei Mädchen marschierten.«
Holly bereut es, ihm diese Geschichte entlockt zu haben. Aus Angst vor den Bildern, die er womöglich gleich schildert, schließt sie die Augen.
»Der Vogel schwebte kaum zwei Meter über ihren Köpfen und nur ganz knapp hinter ihnen, doch die Mädchen bemerkten ihn nicht. Sie nahmen ihn nicht wahr, und ich wusste, was das bedeutete.«
Holly fürchtet die Dunkelheit, die sie umgibt, zu sehr, um davor die Augen zu schließen. Deshalb öffnete sie wieder die Lider, obwohl sie nicht das Geringste sehen kann.
»Weißt du, was das Zeichen des Vogels bedeutete, Holly Rafferty?«
»Den Tod«, sagt sie.
»Ja, ganz genau. Du erhebst dich wirklich zu deiner vollen Größe. Ich sah den Vogel und erkannte, dass der Tod den beiden Mädchen auf den Fersen war. Sie hatten in dieser Welt nicht mehr viel Zeit.«
»Und … was ist mit ihnen geschehen?«
»Der Winter kam früh in jenem Jahr. Ein Schneefall folgte dem anderen, und es war grimmig kalt. Das Tauwetter dauerte bis in den späten Frühling hinein, und als der Schnee endlich geschmolzen war, wurden Ende Juni die Leichen entdeckt. Man hatte sie in der Nähe
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