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Todfeinde

Todfeinde

Titel: Todfeinde Kostenlos Bücher Online Lesen
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Stunde bezog Joe seine neue Wohnung. Er warf den Schlafsack auf die Matratze und hängte seine Sachen in den Schrank, in dem sich nur noch ein Paar ramponierte Wanderstiefel befanden. Als er Wills Kisten entlang der Wohnzimmerwand stapelte, ging ihm durch den Kopf, dass im Haus eine ganz ähnliche Atmosphäre herrschte wie in Wills Büro: als habe er keinen Anlass gesehen, es zu seinem Heim zu machen. Vermutlich hatte Susan bei ihrem Auszug alles mitgenommen, ohne dass er sich daran gestört hatte.
    Wohin nur mit der Urne? Kein Platz schien angemessen. Joe ging durch das Haus und trug sie vor sich her. Falls es spezielle Verhaltensregeln für so eine Situation geben sollte, so kannte er sie nicht. Also ließ er sie vorläufig auf dem Tisch stehen.
    Erfreut stellte er fest, dass Telefon und Fernseher funktionierten. Er ließ einen Sportsender laufen, vor allem, um die Stille zu vertreiben. Mit den Mädchen, Marybeth und Maxine war er es gewohnt, dass immer Leben im Haus war. Bei absoluter Stille fühlte er sich unwohl.
    Erst nach Mitternacht schloss er Wills Pick-up auf, um nach dem Notizbuch zu suchen. Im Führerhaus herrschte ein Durcheinander aus Gerätschaften, Landkarten, Kleidung und Unterlagen. Es sah aus wie in Joes Wagen. Will hatte eigentlich nicht im Haus, sondern im Auto gelebt und gearbeitet und es machte den Anschein, als habe er es gerade erst verlassen und über Nacht abgeschlossen. Wie schon Wills Büro vermittelte auch das Führerhaus den Eindruck, als hätte er seine Arbeit fortsetzen wollen. Nicht mal die angefangene Packung Sonnenblumenkerne in der Mittelkonsole hatte Will wieder verschlossen. Joe durchsuchte das Führerhaus gründlich, schaute sogar zwischen den Sitzen nach und fand dort eine halbleere Wodkaflasche. Aber kein Notizbuch.
    Währenddessen kehrte er in Gedanken immer wieder zu der Begegnung mit Stella Ennis zurück. Er spürte noch immer das ZING , das ihn bei ihrem Händedruck durchfahren hatte, allerdings nur mehr als warmes, nachklingendes Summen. Etwas Derartiges hatte er erst zweimal empfunden: in der achten Klasse, als Jo Ellen Meese ihm zugeflüstert hatte, wann sie ins Nachthemd schlüpfe und dass ihr Schlafzimmerfenster unverschlossen sei; und dann, als er Marybeth an einem verschneiten Tag an der Universität von Wyoming inmitten einer Gruppe Mädchen zur Vorlesung hetzen sah. Sie hatte seinen Blick erwidert, ihm tief in die Augen geschaut, und er hatte gewusst, dass sie die Frau seines Lebens war.
    Beide Erfahrungen hatten ihn grundlegend verändert: Jo Ellen hatte ihn entjungfert, und in Marybeth hatte er, wie er glaubte, die große Liebe gefunden.
    Und nun hatte am Rand einer Landstraße eine verheiratete Frau mit blutverschmierten Händen dafür gesorgt, dass er dieses Gefühl in seinem Innern ein drittes Mal empfunden hatte.
    Er ging in alle Räume seiner neuen Dienstwohnung. Zusätzlich zum großen Schlafzimmer gab es noch ein kleineres, in dem sich mehrere Federrahmen befanden, aber keine Matratze. Trotz der gründlichen Reinigung waren Buntstiftspuren auf dem Boden zu sehen. Das dürfte das Zimmer von Wills Söhnen gewesen sein. Am Flur gegenüber lag das Bad mit Wannendusche, Toilettenschüssel und leerem Medizinschrank. Nicht einmal ein Handtuch hatten sie dagelassen. Die Waschküche wirkte, als stünde sie schon seit Monaten leer. Anscheinend hatte Susan die Waschmaschine und den Trockner mitgenommen, und Will hatte sie nicht ersetzt. Der Boden war staubig und voller Mäusedreck.
    Abgesehen von einer offenen Packung Backpulver und einem Bier war der Kühlschrank leer. Joe machte die Dose auf und nahm einen langen Zug. Das Bier war sauer. Angewidert spuckte er es in die Spüle, füllte den Plastikbecher, der einsam im Geschirrregal stand, mit kaltem Wasser aus der Leitung und versuchte, den Geschmack loszuwerden.
    Neben den Stiefeln und dem Loch in der Zimmerdecke fand sich nur ein einziges echtes Indiz dafür, dass Will Jensen hier gelebt hatte und hier gestorben war. Die Putzkolonne hatte es vermutlich übersehen: Im Tiefkühlfach lag, in Beutel verpackt, noch immer haufenweise Fleisch.
    Morgens um halb vier schrak Joe hoch und wusste nicht, wo er war. Sein Kopf drehte sich. Vergeblich tastete er nach der Lampe, die in Saddlestring auf seinem Nachtschrank stand, verlor das Gleichgewicht, fiel aus dem Bett, zog den Schlafsack mit und landete auf dem harten Boden. » Verdammt! « Der Aufprall seiner Knie hallte durchs leere Haus; zunächst klang es wie ein

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