Todfeinde
vollem Einsatz hineinstürzen und seinen Rhythmus finden. Und wie immer würde er etwas enttäuscht sein, wenn die Saison vorbei war und der Herbst dem Winter wich. Er liebte die harte Arbeit, war gern draußen und mochte das Kribbeln, wenn er auf ein Jagdlager zuging und nicht wusste, wer oder was ihn dort erwartete. Zwei Monate lang würden fast alle, die ihm im Freien begegneten, bewaffnet sein. Das waren Männer, die ihr Leben fast ausschließlich auf die ein- oder zweiwöchige Jagd ausrichteten. Sie wollten kräftig bechern und essen wie Soldaten nach einem einjährigen Gewaltmarsch, wollten ein Pronghorn, einen Maulhirsch, ein Wapiti oder einen Elch erlegen und all die ursprüngliche Energie und Sehnsucht loswerden, die sich ein frustrierendes und erniedrigendes Jahr über in ihnen aufgestaut hatte. Manchmal begegnete er im Gelände Männern, die an diesem Tag eigentlich keinem Jagdaufseher über den Weg laufen wollten. Und dann wurde es interessant.
Nun aber war Joe müde. Er hatte zu viel gegessen und getrunken und sogar ein paar Tänzchen mit Marybeth, Sheridan und Lucy gewagt. Die vom Wein beseelte Missy hatte ihn von seinem Tisch aufs federnde Parkett gezogen. Wie sich zeigen sollte, war es ihr vorletzter Tanz, ehe sie sich zu Bud in dessen schwarzen Geländewagen gesellte und zum kleinen Flughafen von Saddlestring fuhr. Von dort ging es für die frisch Vermählten im siebzehnsitzigen Pendlerflugzeug nach Denver und weiter nach Italien in die Flitterwochen. Sie würden zehn Tage fortbleiben. Bud würde aber rechtzeitig zurück sein, um beim Herbstabtrieb des Viehs von den Hochweiden in die Talebene dabei zu sein.
Und doch musste Joe während der Fahrt immerfort an Will Jensen denken. Welche Umstände mochten ihn dazu gebracht haben, sich umzubringen? Es ergab keinen Sinn. Will war zäh und vernünftig gewesen. Und er hatte seine Familie und seine Arbeit geliebt. Zumindest hatte er auf Joe diesen Eindruck gemacht.
Die Picketts lebten in einem kleinen, zweistöckigen Haus an der Bighorn Road, zwölf Kilometer außerhalb von Saddlestring. Es gehörte dem Staat Wyoming, war seit sechs Jahren ihr Zuhause und stand ein Stück von der Straße entfernt hinter einem kürzlich gestrichenen weißen Zaun. Daneben standen eine separate Garage für Joes Motorschlitten und den Familienvan, ein ungenutzter Schuppen und eine Koppel für die beiden Pferde. Saddlestring galt als »Zwei-Pferde-Bezirk« – Joes Behörde übernahm also die Kosten für die Tiere, zu denen auch die Ausgaben für das Futter und Sattel- und Zaumzeug zählten. Vom Vorgarten blickte man auf die mächtige Südflanke des Wolf Mountain. Zwischen Haus und Berg schlängelte sich der östliche Zulauf des Twelve Sleep River durch eine weidenbestandene Au Richtung Hauptfluss und Stadt.
Beim Betreten des Hauses warf Joe einen Blick in sein kleines Büro neben der Umkleide und sah den Anrufbeantworter blinken. Zu dieser Jahreszeit bekam er viele Anrufe. Jäger, Angler, Rancher, Jagdführer und Anwohner meldeten sich zu jeder Tages- und Nachtzeit bei ihm. Die meisten nahmen an, Joe arbeite von einer Art Bürogebäude seiner Behörde aus. Tatsächlich aber war es nur ein winziges Zimmer in seinem eigenen Haus. Marybeth und Sheridan waren unbezahlte Rezeptionistinnen und Assistentinnen, und selbst Lucy ging mitunter ans Telefon oder an die Tür. In einem Bundesstaat und einer Gemeinde, in dem die Männer sich im Herbst auf der Straße mit der Frage »Haben Sie Ihr Wapiti schon erwischt?« begrüßten, spielte der Jagdaufseher eine wichtige Rolle.
Joe setzte sich an den Schreibtisch, lockerte die Krawatte und sah Marybeth und Lucy an der Tür vorbeigehen. Beide trugen riesige Blumensträuße, die Missy ihnen aufgedrängt hatte. Joes Büro füllte sich mit dem Duft der Blüten.
Auf dem AB waren drei Nachrichten. Die Erste kam von Herman Klein, einem Rancher von der anderen Seite des Wolf Mountain. Klein berichtete, die Wapitis kämen schon aus dem Wald herunter und bedienten sich an seinem Heu. Da er im Vorjahr weitere Wapitizäune zum Schutz seiner Heuschober beantragt hatte, hoffte er nun, dass noch vor Einbruch des Winters ein Bautrupp bei ihm aufkreuzen würde. Joe fluchte und notierte sich, gleich morgen früh den Zaunlieferanten anzurufen, damit er sich um Kleins Anliegen kümmerte. Zu den wenigen Dingen, die seit seinem Dienstbeginn in Saddlestring einfacher geworden waren, gehörte, dass er die Wapitizäune nicht mehr selbst ziehen musste. Leider war
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