Todsünde
sie wie Pfeile aussahen, die auf das bedauernswerte Opfer herabregneten. Das ganze Pult war mit bedauernswerten Opfern übersät. Die verstreuten Zeichnungen zeigten Raumschiffe, die aus allen Rohren feuerten, und blaue Aliens, die den Menschen die Köpfe abschlugen. Das waren keine freundlichen Außerirdischen à la E.T. Das Mädchen, das da am Pult saß und sie zeichnete, kam Rizzoli selbst wie eine Außerirdische vor – ein kleiner Kobold mit rehbraunen Augen, der sich in einem Zimmer versteckt hielt, wo niemand ihn stören würde.
Noni hatte sich einen deprimierenden Zufluchtsort ausgesucht. Das Klassenzimmer sah aus, als wäre es schon lange nicht mehr benutzt worden; die kahlen Wände waren mit zahllosen Reißbrettstiften und vergilbtem Tesafilm verunziert. In der Ecke waren uralte Schulbänke übereinander gestapelt, so dass der zerkratzte Holzboden frei lag. Das wenige Licht, das durch die Fenster fiel, tauchte alles in winterliche Grautöne.
Noni hatte schon die nächste Zeichnung in ihrer Alien-Horror-Serie begonnen. Das Opfer der giftgrünen Todesstrahlen hatte jetzt ein klaffendes Loch im Kopf, aus dem dicke lilafarbene Tropfen spritzten. Darüber erschien eine Sprechblase mit seinem Todesschrei.
Aaaahhhh!!!
»Noni, erinnerst du dich noch an neulich abends, als wir uns mit dir unterhalten haben?«
Die braunen Locken wippten, als das Mädchen nickte.
»Du bist gar nicht mehr vorbeigekommen.«
»Na ja, ich bin ziemlich viel in der Gegend rumgerannt.«
»Du sollst nicht immer rumrennen. Du musst lernen, stillzusitzen und dich zu entspannen.«
Eine mahnende Erwachsenenstimme sprach aus dieser Bemerkung. Hör auf mit der Rennerei und gib endlich Ruhe, Noni!
»Und du sollst auch nicht so traurig sein«, sagte Noni und griff zu einem neuen Stift.
Rizzoli sah schweigend zu, wie das Kind leuchtend rote Spritzer malte, die aus dem explodierenden Kopf hervorschossen. Mein Gott, dachte sie. Dieses Mädchen sieht es mir an. Dieser furchtlose kleine Kobold sieht mehr als alle Erwachsenen.
»Du hast sehr gute Augen«, sagte Rizzoli. »Du siehst wohl ziemlich viel, was?«
»Ich hab mal gesehen, wie eine Kartoffel geplatzt ist. In der Mikrowelle.«
»Du hast uns neulich ein bisschen was über Schwester Ursula erzählt. Du hast gesagt, sie hätte mit dir geschimpft.«
»Hat sie auch.«
»Sie hat gesagt, du wärst unhöflich, weil du eine Frage über die Hände einer Frau gestellt hast. Weißt du das noch?«
Noni hob den Kopf und lugte mit einem braunen Auge durch das Lockengewirr. »Ich dachte, du wolltest nur was über Schwester Camille wissen.«
»Nein, ich interessiere mich auch für Schwester Ursula. Und für die Frau mit den komischen Händen. Was war denn mit der?«
»Sie hatte keine Finger.« Noni nahm einen schwarzen Stift und zeichnete einen Vogel, der über dem explodierenden Mann kreiste. Einen Raubvogel mit riesigen schwarzen Schwingen. »Geier«, sagte sie. »Die fressen einen auf, wenn man tot ist.«
So weit ist es mit mir gekommen, dachte Rizzoli. Ich bin auf die Aussage eines kleinen Mädchens angewiesen, das Marsmännchen und Todesstrahlen malt.
Sie beugte sich vor und fragte leise: »Wo hast du diese Frau gesehen, Noni?«
Noni legte den Stift hin und seufzte resigniert. »Okay. Wenn du’s unbedingt wissen willst.« Sie sprang von ihrem Stuhl herunter.
»Wo gehst du hin?«
»Ich zeig dir, wo die Frau war.«
Nonis Winterjacke war ihr viel zu groß; sie sah aus wie ein kleines Michelinmännchen, als sie so dick vermummt durch den Schnee stapfte. Rizzoli folgte in den Spuren von Nonis Gummistiefeln, und sie kam sich vor wie ein einfacher Rekrut, der hinter einem entschlossenen General hertrottet. Noni führte sie über den Klosterhof, vorbei an dem Brunnen, der unter der dicken Schneeschicht wie eine riesige Hochzeitstorte aussah. Am Tor blieb sie stehen und zeigte durch die Gitterstäbe.
»Sie war da draußen.«
»Vor dem Tor.«
»Mhm. Sie hatte einen großen Schal ums Gesicht gewickelt. Wie ein Bankräuber.«
»Du hast ihr Gesicht also nicht sehen können?«
Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf, dass die braunen Locken flogen.
»Hat die Frau mit dir gesprochen?«
»Nö, nur der Mann.« Rizzoli starrte sie an. »Es war ein Mann bei ihr?«
»Er hat gesagt, ich soll sie reinlassen, weil sie mit Schwester Ursula reden müssten. Aber das ist gegen die Regeln, und das hab ich ihnen auch gesagt. Wenn eine Schwester sich nicht an die Regeln hält, fliegt sie raus. Meine Mama
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