Todsünde
Isles hatte wieder das Kommando übernommen. »Wir sind von Polizei umzingelt. Sie brauchen mich als Geisel. Sie brauchen mich als Fahrerin.«
Einige Sekunden verstrichen. Eine Ewigkeit. Sie schnappte erschrocken nach Luft, als er die Pistole von ihrer Schläfe nahm und die Mündung fest gegen ihren Oberschenkel drückte.
»Und Sie brauchen Ihr linkes Bein nicht zum Fahren. Also, wollen Sie Ihr Knie gern behalten?«
Sie schluckte. »Ja.«
»Na, dann fahren Sie los!« Sie trat aufs Gaspedal.
Der Wagen fuhr langsam an, rollte vorbei an dem geparkten Streifenwagen, hinter dem Frost in Deckung gegangen war. Vor ihnen erstreckte sich die dunkle Straße. Der Weg war frei. Der Wagen rollte weiter.
Plötzlich erblickte sie Pater Brophy im Rückspiegel. Im flackernden Schein des Blaulichts rannte er hinter ihnen her. Er holte sie ein, packte Sutcliffes Tür und riss sie auf. Brophy bekam Sutcliffes Arm zu fassen und versuchte, ihn aus dem Wagen zu zerren.
Ein Schuss fiel. Der Priester wurde nach hinten geschleudert.
Maura stieß ihre Tür auf und warf sich aus dem fahrenden Wagen. Sie landete auf dem vereisten Gehsteig und sah nur noch grelle Blitze vor den Augen, als sie mit dem Kopf auf dem Pflaster aufschlug.
Einen Moment lang konnte sie kein Glied rühren. Sie lag da in völliger Dunkelheit, umfangen von eisiger Kälte, die ihr jegliches Gefühl raubte. Sie empfand weder Schmerzen noch Angst. Spürte nichts als den Wind, der ihr Schneeflocken ins Gesicht wehte. Wie aus großer Ferne drangen Rufe an ihr Ohr.
Die Rufe wurden lauter. Kamen näher.
»Doc? Doc? «
Maura schlug die Augen auf und musste sie gleich wieder zusammenkneifen, als der Lichtstrahl von Rizzolis Taschenlampe sie traf. Sie wandte das Gesicht ab und sah etwa zehn Meter weiter den Wagen stehen. Er hatte einen Baum gerammt.
Sutcliffe lag mit dem Gesicht nach unten auf der Straße. Er drehte und wand sich in dem vergeblichen Versuch aufzustehen. Seine Hände waren hinter dem Rücken mit Handschellen gefesselt.
»Pater Brophy«, murmelte sie. »Wo ist Pater Brophy?«
»Wir haben schon einen Krankenwagen gerufen.«
Langsam setzte Maura sich auf und blickte die Straße hinunter. Sie sah Frost am Boden knien, neben dem reglosen Körper des Priesters. Nein, dachte sie. Nein.
»Noch nicht aufstehen«, sagte Rizzoli und versuchte, sie zu halten.
Doch Maura stieß sie weg und richtete sich unbeholfen auf. Ihre Beine zitterten, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie spürte kaum den eiskalten Asphalt unter ihren Sohlen, als sie auf Brophy zutaumelte.
Frost blickte auf, als sie näher kam. »Es ist eine Brustwunde«, sagte er leise.
Sie fiel neben ihm auf die Knie, riss das Hemd des Priesters auf und sah die Stelle, wo die Kugel eingedrungen war. Und sie hörte das ominöse Geräusch der Luft, die zischend in die Brust gesogen wurde. Maura presste die Handfläche auf die Wunde und fühlte warmes Blut auf feuchtkalter Haut. Er zitterte vor Kälte. Der Wind fegte durch die Straße, schneidend wie eine scharfe Klinge. Und ich trage deinen Mantel, dachte sie. Den Mantel, den du mir gegeben hast, um mich zu wärmen.
Über dem Heulen des Windes hörte sie plötzlich die Sirenen des herannahenden Rettungswagens.
Sein Blick ging ins Leere. Sein Bewusstsein schien zu schwinden.
»Bleib wach, Daniel«, sagte sie. »Hörst du mich?« Ihre Stimme war brüchig. »Du wirst überleben.« Sie beugte sich vor, und ihre Tränen tropften auf sein Gesicht, als sie ihm flehend ins Ohr flüsterte. »Bitte! Tu’s für mich, Daniel. Du darfst nicht sterben. Du darfst nicht sterben ...«
23
Der Fernseher im Wartezimmer des Krankenhauses zeigte wie immer CNN.
Maura hatte ihren bandagierten Fuß auf einen Stuhl gelegt und fixierte mit starrem Blick den Schlagzeilen-Ticker, der am unteren Bildschirmrand durchlief. Doch sie registrierte kein Wort von dem, was sie da las. Obwohl sie inzwischen einen Wollpullover und eine Cordhose trug, fror sie immer noch, und sie hatte das Gefühl, dass ihr nie wieder warm sein würde. Vier Stunden, dachte sie. Er liegt jetzt seit vier Stunden auf dem OP-Tisch. Maura betrachtete ihre Hand. Sie konnte noch Daniel Brophys Blut unter ihren Fingernägeln sehen, und immer noch glaubte sie, sein Herz zu spüren, das wie ein flatternder Vogel gegen ihre Handfläche geschlagen hatte. Sie brauchte keine Röntgenbilder, um zu wissen, welchen Schaden das Geschoss angerichtet hatte; sie hatte die tödliche Spur gesehen, die ein
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