Todsünde
Ein Einbrecher ...« Sie verstummte und starrte wie gebannt auf die Verbindungstür zum Haus. Ein dünner Lichtstreifen fiel durch die Ritze.
Er ist drin. Er durchsucht das Haus.
Sie stieg hastig aus und drückte die Wagentür so lautlos wie möglich zu, um die Innenbeleuchtung auszuschalten. Wieder stand sie in völliger Dunkelheit. Der Sicherungskasten war nur ein paar Schritte entfernt an der Garagenwand, und sie überlegte kurz, ob sie sämtliche Sicherungsschalter umlegen und so im ganzen Haus den Strom unterbrechen sollte. Dann würde zwar die Dunkelheit sie schützen, doch er würde mit Sicherheit sofort erraten, wo sie sich versteckte, und in der Garage nachsehen.
Verhalte dich einfach ganz ruhig, dachte sie. Vielleicht denkt er, dass ich nicht zu Hause bin. Vielleicht denkt er, das Haus ist leer.
Dann fiel ihr das Blut ein. Sie hatte eine Blutspur hinterlassen.
Schon konnte sie seine Schritte hören, das Geräusch von Schuhsohlen auf dem Parkett. Die Schritte folgten ihren blutigen Fußspuren aus der Küche auf den Gang. Zunächst würden ihn die Spuren vielleicht verwirren; sie waren verschmiert, führten den Flur entlang und dann wieder zurück.
Doch irgendwann würde er ihnen bis zur Garage folgen.
Sie dachte daran, wie die Rattenfrau gestorben war, erinnerte sich an die unzähligen hellen Punkte auf dem Röntgenbild ihres Brustkorbs, die Wolke von Schrotkugeln aus dem kupferummantelten Glaser-Geschoss. An den Pfad der Verwüstung, die das Projektil in einem menschlichen Körper hinterließ, wenn die Bleiladung die inneren Organe zerfetzte. Die zerrissenen Arterien, die massiven Blutungen in der Brusthöhle.
Lauf. Sieh zu, dass du aus dem Haus rauskommst.
Und dann – was? Schreien, um die Nachbarn zu wecken? An die Türen hämmern? Sie wusste noch nicht einmal, wer von ihren Nachbarn an diesem Abend zu Hause war.
Die Schritte kamen näher.
Jetzt oder nie.
Sie stürzte sich auf die Tür, die zum Garten führte und riss sie auf. Ein Schwall kalter Luft schlug ihr entgegen, als sie ins Freie trat. Mit den bloßen Füßen sank sie bis über die Knöchel im Schnee ein. Die Schneewehe an der Hauswand kam ins Rutschen und blockierte die Tür.
Sie musste sie halb offen lassen und stapfte weiter zum Gartentor. Mit einem Ruck löste sie den festgefrorenen Riegel. Als sie mit aller Kraft an dem Tor zog, um es gegen den Widerstand des Schnees zu öffnen, fiel ihr das Handy aus der Hand. Sie ließ es liegen. Endlich hatte sie das Tor so weit offen, dass sie sich hindurchzwängen konnte. Sie stolperte hinaus in den Vorgarten.
Alle Häuser in ihrer Straße waren dunkel.
Sie rannte los, stampfte mit bloßen Füßen durch den tiefen Schnee. Sie war gerade an der Straße angelangt, als sie ein Geräusch hörte. Ihr Verfolger hatte das Tor erreicht und zerrte daran, um es weiter zu öffnen.
Auf der Straße hätte sie keinerlei Deckung gehabt. Sie schlug sich seitlich durch die Hecke in Mr. Telushkins Vorgarten; doch hier waren die Schneeverwehungen noch tiefer, sie sank fast bis zu den Knien ein und kam nur mühsam vorwärts. Ihre Füße waren taub, ihre Beine von der Kälte steif und unbeweglich. Vor dem Hintergrund der weißen Schneefläche, die das helle Mondlicht reflektierte, war sie ein leichtes Ziel – eine schwarze Silhouette, die sich gegen ein Meer von gnadenlos strahlendem Weiß klar abzeichnete. Sie kämpfte sich weiter vor, und während ihre Beine immer tiefer im Schnee versanken, fragte sie sich, ob er vielleicht in diesem Moment schon auf sie anlegte.
Sie versank bis zu den Oberschenkeln in einer Schneewehe und stürzte, schmeckte Schnee auf der Zunge. Mit letzter Kraft stemmte sie sich hoch und kroch auf allen vieren weiter. Nur nicht aufgeben. Noch war sie nicht bereit zu sterben. Sie grub sich durch den Schnee, schleppte ihre gefühllosen Beine hinter sich her, und dann hörte sie seine knirschenden Schritte, die auf sie zukamen. Er hatte sie gestellt, jeden Moment würde er den tödlichen Schuss abfeuern.
Plötzlich zerriss ein heller Lichtschein die Dunkelheit.
Sie blickte auf und sah zwei Scheinwerfer, die sich langsam näherten. Ein Auto.
Meine einzige Chance.
Mit einem erstickten Schluchzen sprang sie auf und rannte zur Straße. Ruderte mit den Armen, schrie.
Das Auto bremste ab, schlitterte noch ein paar Meter und kam genau vor ihr zum Stehen. Der Fahrer stieg aus. Sie erblickte eine hohe, beeindruckende Gestalt, die über den gespenstisch schimmernden Schnee auf sie
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