Todsünde
Reifen aufstob.
11
Es war schon sieben Uhr, als Maura endlich nach Hause kam. Während sie in ihre Einfahrt bog, sah sie Lichter im Haus brennen. Nicht das armselige Glimmen von ein paar Glühbirnen, das von einer Zeitschaltuhr gesteuert wurde, sondern den warmen, fröhlichen Schein vieler Lampen, der anzeigte, dass jemand auf sie wartete. Und durch das Wohnzimmerfenster konnte sie eine bunte Lichterpyramide erkennen.
Es war ein Weihnachtsbaum.
Das hätte sie nun wirklich nicht erwartet. Sie hielt in der Einfahrt an, im Anblick der funkelnden Farbtupfer versunken, und dachte an vergangene Weihnachtsfeste. Damals hatte sie den Baum für Victor aufgestellt, hatte behutsam die zerbrechlichen Kugeln aus ihren Strohnestern gehoben und sie an die Zweige gehängt, bis ihre Finger den herben Duft des Fichtenharzes angenommen hatten. Und sie erinnerte sich an die Weihnachtsfeste ihrer Kindheit, als ihr Vater sie auf seine Schultern gehoben hatte, damit sie den silbernen Stern auf die Spitze des Baums stecken konnte. Nicht ein einziges Mal hatten ihre Eltern auf diesen schönen Brauch verzichtet – doch wie schnell hatte sie ihn aus ihrem eigenen Leben verschwinden lassen. Es war ihr alles zu zeitraubend, zu umständlich. Das schwere Ding ins Haus schaffen und später wieder auf die Straße hinausschleppen, wo es dann mit all den anderen vertrockneten braunen Baumleichen auf die Müllabfuhr wartete. Sie hatte sich von den lästigen und unangenehmen Aspekten abschrecken lassen und darüber ganz die Freude vergessen.
Als sie aus der kalten Garage ins Haus trat, stieg ihr der Duft von gebratenem Huhn mit Knoblauch und Rosmarin in die Nase. Was für ein gutes Gefühl es doch war, von köstlichen Essensgerüchen begrüßt zu werden und zu wissen, dass man erwartet wurde! Sie hörte, dass im Wohnzimmer der Fernseher lief, und ging dem Geräusch nach, während sie noch im Flur den Mantel auszog.
Victor saß im Schneidersitz neben dem Baum auf dem Boden. Er versuchte gerade, ein Knäuel Lametta zu entwirren, und als er sie erblickte, lachte er resigniert auf.
»Ich stelle mich immer noch so blöd an wie damals, als wir verheiratet waren.«
»Das ist ja wirklich eine Überraschung«, sagte sie und blickte bewundernd zu dem hell erleuchteten Baum auf.
»Na ja, ich dachte mir, jetzt haben wir schon den achtzehnten Dezember, und du hast noch nicht mal einen Baum.«
»Ich hatte noch keine Zeit, einen zu besorgen.«
»Für Weihnachten hat man immer Zeit, Maura.«
»Das ist ja mal was Neues. Du warst doch immer derjenige, der vor lauter Arbeit nicht dazu kam, die Feste zu feiern, wie sie fallen.«
Er blickte aus dem Gewirr von Silberfäden zu ihr auf. »Und das wirst du mir immer wieder vorwerfen, nicht wahr?«
Sie verstummte und bedauerte sofort ihre letzte Bemerkung. Es war keine gute Art, den Abend zu beginnen, wenn sie gleich wieder alte Wunden aufriss. Sie ging zum Wandschrank, um ihren Mantel aufzuhängen. Ohne sich zu ihm umzudrehen, rief sie: »Möchtest du einen Drink?«
»Gerne – dasselbe wie du.«
»Auch wenn es ein Frauendrink ist?«
»Bin ich je ein Sexist gewesen, wenn es um Drinks ging?«
Sie lachte und ging in die Küche, wo sie Limetten und Cranberrysaft aus dem Kühlschrank nahm. Sie maß Cointreau und Wodka mit Zitrone ab und gab beides in den Shaker. Nachdem sie die Eiswürfel hinzugefügt hatte, mixte sie alles über dem Spülbecken und fühlte, wie das Metallgehäuse allmählich eiskalt wurde. Das klappernde Geräusch erinnerte sie an ein Würfelspiel. Alles ist doch nur ein Spiel, dachte sie – und die Liebe mehr als alles andere. Das letzte Mal habe ich verloren. Und diesmal – was steht für mich diesmal auf dem Spiel? Eine Chance zur Versöhnung? Oder eine zweite Chance, mir das Herz brechen zu lassen?
Sie goss den eisgekühlten Drink in zwei Martinigläser. Als sie damit hinausgehen wollte, fiel ihr Blick auf den Abfalleimer, der mit leeren Essenskartons voll gestopft war. Maura musste lächeln. Victor hatte sich also doch nicht auf wundersame Weise in einen Meisterkoch verwandelt. Das Abendessen, das er ihr servieren würde, stammte aus einem Delikatessenladen.
Als sie das Wohnzimmer betrat, sah sie, dass Victor den Kampf mit dem Lamettaknäuel aufgegeben hatte und damit beschäftigt war, die leeren Christbaumschmuck-Schachteln wegzuräumen.
»Du hast dir so viel Mühe gemacht«, sagte sie, während sie die Cocktailgläser auf den Couchtisch stellte. »Kugeln, Lichter, alles hast du
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