Todsünde
merkt nicht einmal, wie man sich die Haut verbrüht. Oder man spürt nicht, dass sich am Fuß eine Blase bildet. So wird man sich immer wieder verletzen, und das führt dann zu sekundären Infektionen. Die Wunden werden brandig.« Maura brach ab, frustriert durch das widerspenstige Schloss.
»Lassen Sie mich mal versuchen.«
Maura trat zur Seite und steckte erleichtert die behandschuhten Hände in die Manteltaschen, während Rizzoli mit Schlüssel und Schloss hantierte.
»In ärmeren Ländern«, fuhr Maura fort, »sind meistens Ratten für die Verstümmelungen an Händen und Füßen verantwortlich.«
Rizzoli sah sie fragend an. »Ratten?«
»Sie kommen nachts, wenn die Leute schlafen. Krabbeln in die Betten und nagen ihre Finger und Zehen an.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Und der Kranke spürt nichts, weil die Lepra seine Haut schmerzunempfindlich gemacht hat. Am nächsten Morgen wacht er auf und stellt fest, dass seine Fingerspitzen weg sind. Dass nur noch blutige Stümpfe übrig sind.«
Rizzoli starrte sie an. Dann drehte sie den Schlüssel mit einem kräftigen Ruck um. Das Schloss sprang auf.
Sie stieß die Tür auf. Dahinter war alles dunkel, nur schemenhaft konnten sie einzelne Umrisse erkennen.
»Willkommen bei Mama Cortina«, sagte Maura.
Rizzoli hielt auf der Schwelle inne. Der helle Strahl ihrer Krypton-Taschenlampe durchschnitt die Finsternis. »Da drinnen bewegt sich was«, flüsterte sie.
»Ratten.«
»Lassen Sie uns lieber nicht mehr über die Viecher reden.«
Maura schaltete ebenfalls ihre Taschenlampe ein und folgte Rizzoli in die dunkle Küche, in der es nach ranzigem Fett roch.
»Er hat sie durch diesen Raum ins Restaurant geschleppt«, erklärte Maura und leuchtete den Fußboden an.
»Sie haben im Staub Schleifspuren gefunden, die vermutlich von den Fersen der Schuhe des Opfers stammen. Er muss sie unter den Achseln gepackt und rückwärts über den Boden gezogen haben.«
»Dass er sie überhaupt angefasst hat.«
»Ich nehme an, er hat Handschuhe getragen, denn es wurden keine Fingerabdrücke gefunden.«
»Trotzdem – er ist doch mit ihren Kleidern in Berührung gekommen. Er hätte sich anstecken können.«
»Sie denken über die Krankheit wie unsere Vorfahren. Als ob eine einzige Berührung eines Aussätzigen einen in ein Monstrum verwandeln könnte. Die Krankheit ist gar nicht so ansteckend, wie Sie glauben.«
»Aber man kann sie bekommen. Man kann sich anstecken.«
»Ja.«
»Und ehe man sich’s versieht, fallen einem die Finger und die Nase ab.«
»Es gibt Behandlungsmöglichkeiten. Antibiotika.«
»Das ist mir gleich«, erwiderte Rizzoli. Langsam tastete sie sich durch die Küche vor. »Wir reden hier immerhin von Lepra. Das ist eine biblische Plage.«
Sie stießen die Schwingtür auf und betraten den Gastraum. Der Lichtkegel von Rizzolis Lampe beschrieb einen Halbkreis und huschte kurz über gestapelte Stühle. Obwohl sie das Ungeziefer nicht sehen konnten, vernahmen sie deutlich ein leises Rascheln. Die Dunkelheit lebte.
»Wo geht’s lang?«, fragte Rizzoli. Sie flüsterte jetzt nur noch, als hätten sie sich auf feindliches Gebiet vorgewagt.
»Immer geradeaus. Dort hinten geht rechts ein Gang ab.«
Der Schein ihrer Taschenlampen flackerte über den Boden. Die letzten Reste der Schleifspuren waren durch die Sohlen der Polizisten, die seither den Raum durchquert hatten, verwischt worden. An dem Abend, als Maura zum Tatort gerufen worden war, hatten Crowe und Sleeper sie empfangen, und sie hatte gewusst, dass draußen eine ganze Armee von Spurensicherungsexperten darauf wartete, mit Kameras, Fingerabdruckpulver und technischem Gerät anzurücken. An diesem Abend hatte sie keine Angst gehabt.
Jetzt aber ging ihr Atem schwer. Sie hielt sich dicht hinter Rizzoli und registrierte zugleich mit Unbehagen, dass niemand da war, der ihr selbst Rückendeckung geben konnte. Maura spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten, und voller Anspannung lauschte sie auf das kleinste Geräusch, das geringste Anzeichen einer Bewegung hinter ihrem Rücken.
Rizzoli blieb stehen und schwenkte die Lampe nach rechts. »Ist das der Flur?«
»Die Toilette ist am anderen Ende.«
Rizzoli ging weiter. Der Lichtstrahl sprang zwischen den Wänden hin und her. An der letzten Tür blieb sie stehen, als ahnte sie bereits, was sie dort erwartete. Sie leuchtete hinein und starrte auf die Blutflecken am Fliesenboden. Dann ließ sie den Lichtkegel flüchtig über die Wände, die Tür der
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