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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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im Tod wurde der Aussätzige von allen gemieden.
    »Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass man in den USA auf einen Patienten in einem so fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung trifft«, sagte Dr. Cawley. »Die moderne Medizin würde sie eindämmen, lange bevor es zu solchen Entstellungen kommen könnte. Mit einer Dreifachkombination von Medikamenten lassen sich selbst die schwersten Fälle von lepromatöser Lepra heilen.«
    »Ich gehe davon aus, dass diese Frau behandelt wurde « , erwiderte Maura. »Schließlich konnte ich in den Gewebeproben keine aktiven Erreger finden.«
    »Ja, aber offensichtlich kam die Therapie für sie zu spät. Sehen Sie sich diese Verunstaltungen an – den Zahnausfall, die Zerstörung der Gesichtsknochen. Sie muss bereits sehr lange infiziert gewesen sein – vermutlich seit Jahrzehnten –, bevor ihre Krankheit erstmals behandelt wurde.«
    »Selbst den ärmsten Patienten würde hierzulande eine Behandlung zuteil werden.«
    »Das wäre zumindest zu hoffen. Lepra ist schließlich eine meldepflichtige Infektionskrankheit.«
    »Dann liegt die Vermutung nahe, dass diese Frau eine Immigrantin war.«
    Cawley nickte. »Die Krankheit ist in manchen Weltgegenden noch unter der Landbevölkerung verbreitet. Die Mehrzahl der Fälle beschränkt sich auf fünf Länder.«
    »Und welche sind das?«
    »Brasilien, Bangladesch, Indonesien, Myanmar – und natürlich Indien.«
    Dr. Cawley legte den Schädel ins Regal zurück und sammelte dann die Fotos von ihrem Schreibtisch ein. Doch Maura registrierte ihre Bewegungen kaum. Gedankenverloren starrte sie das Röntgenbild der Rattenfrau an und dachte dabei an ein anderes Opfer, einen anderen Tatort. An Blut, vergossen im Schatten eines Kruzifixes.
    Indien, dachte sie. Schwester Ursula hat in Indien gearbeitet.
    Graystones Abbey wirkte kälter und trostloser denn je, als Maura an diesem Nachmittag durch das Tor trat. Die greise Schwester Isabel ging voran über den Hof. Unter dem Saum ihrer schwarzen Tracht lugten in merkwürdigem Kontrast Schneestiefel aus Gore-Tex hervor. Wenn der Winter so richtig zuschlägt, greifen selbst Nonnen auf praktische Outdoor-Bekleidung zurück.
    Schwester Isabel führte Maura in das leere Büro der Äbtissin und verschwand dann in dem halbdunklen Korridor. Das Echo ihrer Stiefelsohlen auf den Dielen war bald verhallt.
    Maura fasste an den gusseisernen Heizkörper – er war eiskalt. Sie behielt den Mantel an.
    Es dauerte so lange, dass sie sich schon zu fragen begann, ob sie schlicht und einfach vergessen worden war – ob die alte Schwester Isabel einfach davongeschlurft und ihre Erinnerung an die Besucherin mit jedem Schritt weiter verblasst war. So stand sie da und lauschte auf das Knacken und Knarren im Gebälk, auf das Klappern der Fensterläden im Wind, und sie malte sich aus, wie es wohl wäre, sein ganzes Leben unter diesem Dach zuzubringen. Jahre des Schweigens und des stillen Gebets, der immer gleichen Rituale. Es hatte etwas Tröstliches, dachte sie. Jeden Morgen aufzuwachen und genau zu wissen, was der Tag bringen würde. Keine Überraschungen, keine Aufregungen. Man steht auf und schlüpft in die immer gleichen Kleider, kniet nieder, um die immer gleichen Gebete zu sprechen, und begibt sich dann über den immer gleichen düsteren Flur zum Frühstück. Draußen mochten die Röcke der Frauen kürzer und wieder länger werden, mochten neue Automodelle den Markt erobern, eine unübersehbare Galaxie von Filmstars und -sternchen über die Leinwand ziehen und wieder in der Versenkung verschwinden. Doch hier in diesen Mauern blieben die Rituale unverändert, blieb ein Tag wie der andere, auch wenn der Körper allmählich gebrechlich wurde, die Hände zu zittern begannen und die Welt für die ertaubenden Ohren immer stiller wurde.
    Tröstliche Einförmigkeit, dachte Maura. Stille Zufriedenheit. Ja, es gab Gründe, sich von der Welt zurückzuziehen – Gründe, die sie gut verstehen konnte.
    Sie hatte Mary Clement nicht kommen hören, und so schrak sie zusammen, als sie die Äbtissin plötzlich in der Tür stehen sah. Sie hatte Maura wohl schon eine Weile unbemerkt beobachtet.
    »Ehrwürdige Mutter!«
    »Wie ich höre, haben Sie noch mehr Fragen?«
    »Ja. Es geht um Schwester Ursula.«
    Mary Clement trat lautlos ein und nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz. An diesem bitterkalten Tag hatte selbst sie Zugeständnisse an die winterlichen Temperaturen machen müssen: Unter ihrem Schleier trug sie einen grauen Wollpullover mit

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