Todsünde
weißem Kätzchenmuster. Sie faltete die Hände auf dem Tisch und fixierte Maura mit strengem Blick. Das war nicht mehr das freundliche Gesicht, das sie an jenem ersten Morgen begrüßt hatte.
»Sie haben alles darangesetzt, Unruhe in unser Leben zu bringen und die Erinnerung an Schwester Camille zu trüben. Und jetzt wollen Sie dasselbe Schwester Ursula antun?«
»Sie würde wollen, dass wir den Täter finden.«
»Und welche schrecklichen Geheimnisse glauben Sie bei ihr entdecken zu können? Auf welche Sünden sind Sie diesmal aus, Dr. Isles?«
»Es müssen ja keine Sünden sein.«
»Noch vor ein paar Tagen haben Sie sich nur für Camille interessiert.«
»Und das hat uns vielleicht davon abgehalten, uns intensiver mit Schwester Ursulas Leben zu befassen.«
»Da werden Sie keine Skandale finden.«
»Ich suche auch nicht nach Skandalen. Sondern nach dem Motiv des Täters.«
»Für einen Mordanschlag auf eine achtundsechzigjährige Nonne?« Mary Clement schüttelte den Kopf. »Ich kann mir kein rationales Motiv für eine solche Tat vorstellen.«
»Sie sagten uns doch, dass Schwester Ursula in einer Mission in Übersee gearbeitet habe. In Indien.«
Der abrupte Themenwechsel schien Mary Clement ein wenig aus der Fassung zu bringen. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah Maura an. »Wieso ist das von Belang?«
»Erzählen Sie mir doch bitte ein wenig mehr über ihre Zeit in Indien.«
»Ich bin mir nicht sicher, was Sie im Einzelnen wissen wollen.«
»Sie ist ausgebildete Krankenschwester?«
»Ja. Schwester Ursula hat in einem kleinen Dorf in der Nähe von Hyderabad gearbeitet. Sie hat ungefähr fünf Jahre dort verbracht.«
»Und vor einem Jahr ist sie nach Graystones zurückgekehrt?«
»Im Januar.«
»Hat sie viel von ihrer Arbeit dort erzählt?«
»Nein.«
»Sie war fünf Jahre dort und hat nie von ihren Erlebnissen gesprochen?«
»Hier in Graystones wissen wir das Schweigen zu schätzen. Wir halten wenig von eitlem Geschwätz.«
»Ich würde es nicht als eitles Geschwätz bezeichnen, wenn eine Nonne von ihrem Missionseinsatz im Ausland berichtet.«
»Haben Sie schon einmal im Ausland gelebt, Dr. Isles? Ich meine nicht in einem komfortablen Touristenhotel, wo das Zimmermädchen jeden Tag die Bettwäsche wechselt. Ich spreche von Dörfern, in denen die Straßen stinkende Kloaken sind und die Kinder an Cholera sterben. Schwester Ursulas Erfahrungen dort hätten wohl kaum sehr angenehmen Gesprächsstoff abgegeben.«
»Sie sagten uns, es sei dort in Indien zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Das Dorf, in dem sie arbeitete, sei überfallen worden.«
Die Äbtissin senkte den Blick auf ihre gefalteten Hände. Die Haut war rot und aufgesprungen.
»Ehrwürdige Mutter?«, sagte Maura.
»Ich kenne nicht die ganze Geschichte. Sie hat nie mit mir darüber gesprochen. Das wenige, was ich weiß, habe ich von Pater Doolin.«
»Wer ist das?«
»Pater Doolin ist in der Erzdiözese von Hyderabad tätig. Gleich nach dem Vorfall rief er hier an, um mir zu sagen, dass Schwester Ursula nach Graystones zurückkehren würde. Dass sie wieder ins Klosterleben einzutreten wünschte. Selbstverständlich haben wir sie bei uns willkommen geheißen. Das hier ist ihr Zuhause. Es war nur natürlich, dass sie hier Trost suchte, nach...«
»Wonach, Ehrwürdige Mutter?«
»Nach dem Massaker von Bara.«
Eine Windbö erfasste plötzlich das Fenster und rüttelte heftig daran. Aus der Welt hinter der Scheibe schienen alle Farben gewichen. Eine graue Mauer, darüber grauer Himmel.
»Das war das Dorf, in dem sie gearbeitet hatte?«, fragte Maura.
Mary Clement nickte. »Ein Dorf, so arm, dass es weder Telefon noch elektrischen Strom hatte. An die hundert Menschen lebten dort, aber nur wenige Fremde fanden je den Weg dorthin. Das war das Leben, für das unsere Schwester sich entschieden hatte – der Dienst an den Ärmsten der Armen.«
Maura dachte an die Autopsie der Rattenfrau. An ihren von der Krankheit deformierten Schädel. Leise sagte sie: »Es war eine Leprakolonie.«
Mary Clement nickte. »In Indien gelten diese Menschen als die Unreinsten von allen. Verachtet und gefürchtet zugleich. Von ihren Familien ausgestoßen. Sie leben in eigenen Dörfern, fern von anderen Menschen, wo sie ihre Gesichter nicht verbergen müssen. Wo alle anderen ebenso entstellt sind wie sie selbst.« Sie sah Maura an. »Aber auch das hat den Überfall nicht verhindern können. Bara existiert nicht mehr.«
»Sie sprachen von
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