Todtstelzers Schicksal
einander gegenüber und musterten sich eine ganze
Weile lang. Sie sahen mehr wie Brüder aus als wie Vater und
Sohn.
»Ich denke, wir werden nicht weiterreden«, sagte Micah.
»Wir haben alles gesagt, was gesagt werden musste.«
»Ja«, sagte Ricard. »Zeit, Abschied zu nehmen. Kann ich
noch irgendwas für dich tun, mein Sohn?«
»Ja«, antwortete Micah. »Drücke mich, wie ein Vater seinen
Sohn drückt, weil ich mich an sowas überhaupt nicht erinnere.«
Ricard sah ihn ausdruckslos an. »Weißt du, was du da verlangst, Micah? Was du dazu tun musst?«
»O ja! Ich muss mein Kraftfeld ausschalten und dir Eintritt
gewähren. Aber ich möchte es so, Vater. Ich habe es mir schon
immer gewünscht. Damit wir uns nie wieder trennen.«
Er tippte die richtige Kombination in die Tastatur an der Hüfte, und das schimmernde Kraftfeld schaltete sich innerhalb eines Augenblicks ab. Ricard trat vor und nahm seinen Sohn in
die Arme. Sie hielten einander fest, und die Nanos machten
sich an die Arbeit. Die beiden Gestalten verschmolzen miteinander, und Micah Barron wurde schließlich das, was er sich
immer gewünscht hatte. Sein Vater.
Schwejksam trat aus dem sich auflösenden Wald von Virimonde hervor und fand sich auf einmal zwischen den Metallbäumen von Unseeli wieder. Er brauchte nicht zu fragen, wessen
Traum er in diesem Moment durchwanderte. Er blieb für einen
Moment stehen, betrachtete die Ashrai, wie sie über ihm dahinflogen, und versuchte sich schuldig zu fühlen – aber es lag alles
so lange zurück. Trotzdem; es war lange her, seit er sie zuletzt
fliegen gesehen hatte. Sie waren … wunderbar. Er fand Carrion
recht leicht. Marlowe oder Jesus – oder wer zum Teufel auch
immer er heute war – hatte sich nicht die Mühe gemacht, viel
von dem Metallwald neu zu erschaffen. Schwejksam hatte den
Bestand rasch durchschritten, und dort saß Carrion friedlich im
vollen Lotussitz, den Rücken am glatten Stamm eines goldenen
Baumes, die Augen geschlossen. Schwejksam hatte ihn noch
nie so glücklich gesehen. Selbst wenn er immer noch das
Schwarz des Verräters trug.
»Sean«, sagte Schwejksam streng. »Zeit aufzuwachen. Zeit
zu gehen.«
»Geht weg, Johan«, sagte Carrion. ohne die Augen zu öffnen.
»Ihr habt hier nichts verloren. Ihr gehört nicht hierher. Ich bin
heimgekehrt, und alles ist wieder in Ordnung.«
»Nichts ist in Ordnung! Das hier ist nicht real; es ist nur eine
Neuschöpfung der Nanos.«
»Denkt Ihr, das wüsste ich nicht?« Carrions Stimme blieb ruhig, aber er weigerte sich nach wie vor, die Augen zu öffnen,
als wollte er Schwejksams Gegenwart leugnen. »Ich weiß, dass
es nicht real ist, und es kümmert mich nicht. Ich habe Frieden
gefunden und eine Zufriedenheit des Herzens, von der ich nie
erwartet hätte, ich würde sie je wieder erfahren. Ich bleibe
hier.«
»Dann sterbt Ihr.«
»Ja, Johan. Das ist es, was ich mir wirklich wünsche. Was
ich mir immer gewünscht habe. Ist Euch das nicht klar?«
Schwejksam kniete neben ihm nieder. »Ich brauche Euch,
Sean.«
»Ihr braucht immer jemanden. Dasselbe Argument habt Ihr
schon benutzt, um mich letztes Mal aus dem Frieden wegzuzerren. Ihr habt mich gezwungen, erneut zu leben, als ich mir
nichts weiter wünschte, als zu sterben. Laßt mich in Frieden.«
Schwejksam legte ihm eine Hand auf die Schulter, als wollte
er einen Mann packen, der einen dunklen Fluss hinabtrieb.
»Bitte, Sean! Tut das nicht. Ihr seid mein Freund. Ich habe
Frost verloren. Ich möchte nicht auch Euch verlieren.«
Ein Augenblick trat ein, der nie vorüberzugehen schien, und
dann seufzte Carrion und öffnete die Augen. »Ihr habt Euch
schon immer auf schmutzige Tricks verstanden, Johan. Aber
Ihr dürft nicht glauben, dass selbst Ihr es schaffen werdet, mich
aus diesem Grab zu ziehen, das ich mir selbst geschaufelt habe.
Dies ist eine Stätte der Toten, und hierhin gehöre ich.«
»Mein Gott, seid Ihr ein düsterer Mistkerl!«, beklagte sich
Schwejksam. »Fragt die Ashrai; fragt die Geister, die darauf
bestehen, Euch heimzusuchen. Fragt mal, was sie von dieser
Schau, diesem Gespött halten!«
Ein Mundwinkel Carrions zuckte unwillkürlich, zeigte die
Spur eines Lächelns. »Nun, das … dürfte interessant werden.«
Er öffnete den Mund und stieß einen fremdartigen Laut aus,
den rauen, unheimlichen Ruf der Ashrai. Und schon einen Augenblick später, als hätten sie nur auf seinen Ruf gewartet, waren die echten Ashrai bei ihm, riesige und brutale
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