Töchter auf Zeit
war es ja doch nicht so schlimm, wenn ein Mensch sterben musste. Vielleicht war es nur eine Frage des Glaubens. Für Gläubige war die Sache ja klar, sie konnten mithilfe ihres Glaubens besser mit dem Tod umgehen, ihn verstehen und akzeptieren. Diejenigen, die keinen Glauben für sich gefunden hatten, in dem sie Trost gefunden hätten, waren diejenigen, die heftig damit zu kämpfen hatten. Mein Widerstand war noch immer da, aber ich bewegte mich allmählich in die richtige Richtung.
Doch da gab es auch andere Momente in meinem Leben – und die nicht zu knapp. Dann fehlte mir jeglicher Glauben, jegliche Hoffnung und Zuversicht. Dann sah ich nichts Göttliches daran, hegte nur finstere und trübsinnige Gedanken und konnte keinen Sinn in meinem Leid erkennen. Und ja, ich litt.
Nach St. Mary‘s machten Sam und ich uns auf den Weg ins Harvest. Wir hatten eine Teilzeitstudentin, Abby, eingestellt, die täglich drei Stunden auf Sam aufpasste. Meistens gingen die beiden in den Park oder aßen zusammen Mittag und malten Bilder mit Wachsmalkreide. Ansonsten war Sam immer bei mir. Mittlerweile hatte ich stapelweise Bücher über Adoptivkinder gelesen, und alle waren sich einig, dass ein Adoptivkind zunächsteine starke Bindung zu einer Bezugsperson entwickeln musste. Für Sam war das natürlich ich. Ich wusste aus eigener Erfahrung, was ein Kind, das seine Mutter vermisste, wollte und brauchte. Ich musste unter allen Umständen verhindern, dass sich Sam jemals so einsam und allein fühlte.
An den Vormittagen ohne Sam stand ich hinter meinem Arbeitsplatz aus Edelstahl und verrichtete immer wieder die gleichen Bewegungen, die jemand anderes wohl eintönig und langweilig gefunden hätte: schnippeln oder hacken, abmessen, rühren, kneten. Doch für mich war das sehr befriedigend, denn dadurch erfuhr ich, dass ich wenigstens ein paar Dinge in meinem Leben unter Kontrolle hatte. Margot – die andere Konditorin – und ich teilten uns die Arbeit. Auf diese Weise konnte ich viel Zeit mit Sam verbringen und eine liebevolle, aufmerksame Tante für Maura sein.
Auch Tim hatte sich an dem Tag, als Claire starb, etwas vorgenommen. Er hatte entschieden, Philippe von Sonntag bis Mittwoch die Verantwortung für das Restaurant zu übertragen. Diese Vereinbarung ermöglichte es ihm, vier von sieben Abenden in der Woche mit seiner Familie zu verbringen. Auch Larry gehörte mittlerweile dazu. Er schaute mehrmals in der Woche bei uns vorbei und half Maura bei der Erziehung von Chip.
Sitz! Hierher! Bleib!
Larry setzte Sam in ihren Buggy und ging mit Maura und Chip um den Block, ließ ihn im hinteren Teil des Grundstücks Tennisbälle apportieren und spritzte ihn mit dem Gartenschlauch ab. Die Mädels wiederum bürsteten Chip und gaben ihm Leckerlis. Schließlich legte ich Sam für ein Nickerchen ins Bett und ließ Maura fernsehen, während Larry und ich Kaffee tranken. Manchmal sprach er dann von Mom, doch die meiste Zeit ging es um Claire. Ich freute mich zu sehen, dass sein Gesicht jedes Mal dabei einen ganz sanften Ausdruck bekam und ein zartes Lächeln seinen Mund umspielte. Er gab mir das, was Claire einfach nicht gekonnt hatte: Er erlaubte esmir, über Mom und jetzt auch über Claire zu reden. Ich hatte ja die ganze Zeit über schon das Gefühl gehabt, dass wir uns sehr ähnlich waren und gern in der Vergangenheit schwelgten. Es tat uns beiden gut.
Eines Morgens war Sam mit Abby draußen, als mein Handy läutete. Es war Mrs Murphy, Mauras Aushilfserzieherin. Ihre reguläre Erzieherin hatte sich den Knöchel verstaucht und war die nächsten drei Wochen krankgeschrieben.
»Ist alles okay? Ist Maura okay?«, wollte ich sofort wissen.
»Ja, es geht allen gut«, versicherte mir Mrs Murphy. »Ich würde nur gerne mit Ihnen sprechen. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit, bevor Sie zur Arbeit müssen, und könnten Sie vorbeikommen?«
Als Sam und ich im Kindergarten ankamen, waren die anderen Kinder draußen zum Spielen. Sam machte sich sofort an die Bauklötze in der Zimmerecke, während ich mir auf dem kleinen Kinderstuhl wie eine Riesin vorkam.
»Es war heute so ein schöner Tag«, begann sie. »Deshalb hatte ich beschlossen, dass wir alle im Freien zu Mittag essen und auch die Musikstunde sollte draußen stattfinden. Ich habe den Kindern gesagt, sie sollen ihr Essen und die Klanghölzer mitnehmen, und los ging’s. Mir ist nach kurzer Zeit aufgefallen, dass Maura keinen Bissen zu sich nahm und auch die Klanghölzer links liegen ließ.
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