Töchter auf Zeit
Als ich sie fragte, was los sei, hat sie den Blick gesenkt und mir keine Antwort gegeben. Verstehen Sie jetzt, weshalb ich mir Sorgen mache?«
Ich deutete auf die Tafel, wo mir die dicken farbigen Pfeile ins Auge sprangen, die den Tagesplan symbolisierten. Als Erstes stand
Malen und Basteln
auf dem Programm, dann Mittagessen. Und anschließend dann
Musik
. Mein Herz schlug rasend schnell. Am liebsten hätte ich diese Kindergartentante erwürgt.Ich musste an Maura denken, und wie sie sich gefühlt haben musste, weil der Plan nicht eingehalten worden war.
»Maura hat vor Kurzem ihre Mutter verloren«, sagte ich und versuchte, meine Stimme fest klingen zu lassen. »Ich bin mir sicher, dass man Ihnen das gesagt hat. Für Maura muss im Moment alles strikt nach Plan ablaufen. Für sie ist das heute nicht der Fall gewesen.« Ich deutete auf die Tafel und fuhr fort: »Sie hat das hier erwartet. Sie muss wissen, was der Tag bringt. Solange alles beim Alten bleibt, ist alles in Ordnung und es geht ihr gut. Aber Spontaneität ist Gift für sie. Sie kann weder mit großen Überraschungen noch mit den kleinsten Planabweichungen umgehen.« Ich hatte einen riesigen Stein im Magen.
»Ich verstehe«, sagte Mrs Murphy mit gepresster Stimme.
»Ich bin mir sicher, dass sich das im Laufe der Zeit ändern wird«, sagte ich, denn ich wollte keinesfalls eine große Sache daraus machen. »Für mich ist die Sache jedoch klar: Sie hat ihr Mittagessen nicht gegessen, weil Mittagessen planmäßig nach Malen und Basteln, aber vor Musik dran ist.«
»Okay«, sagte sie schnell und klang, als ob ich ihre Gefühle verletzt hätte. »Ich denke, ich verstehe, was Sie meinen.«
Na mach schon!,
wollte ich ihr sagen.
Sie ist doch noch ein kleines Mädchen. Sagen Sie mir einfach, dass es kein Problem ist, sich an den Stundenplan zu halten.
Ich versuchte, meine Stimme ganz warm klingen zu lassen. »Hat Maura Ms Julia heute schon gesehen? Vielleicht kann sie mit ihr darüber reden.«
Später dann saß ich am Rand der Badewanne und half Sam und Maura beim Waschen und Haarewaschen. Maura hatte es geliebt zu baden, aber seit Neuestem nervte sie der Schaum, genauer gesagt die Tatsache, dass sie es einfach nicht schaffte, aus der Wanne zu steigen, ohne dass noch winzige Schaumbläschen an ihr hingen.
»Ich habe mich heute mit Mrs Murphy unterhalten«, erzählte ich Maura. »Sie meinte, du hättest heute nicht zu Mittag gegessen.«
Maura zuckte mit den Schultern.
»War irgendwas los heute? Hast du dich über etwas geärgert?«
Maura schüttelte den Kopf.
»Ich habe ihr gesagt, dass du es wohl nicht gewohnt bist, im Freien zu essen«, sagte ich und bot Maura damit einen Ausweg an. »Außerdem steht doch auf dem Stundenplan, dass ihr zuerst zu Mittag esst und dann Musikstunde habt. Aber doch nicht beides zur selben Zeit!« Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn und fuhr mit dümmlich klingender Stimme fort: »Wie soll man denn bitte schön gleichzeitig essen und musizieren?«
»Wir müssen eine Ahnentafel machen«, sagte Maura.
»Oh, Schätzchen.«
»Da ist Platz für eine Mom, aber ich habe ja keine.«
»Du kannst aber doch immer noch ein Foto von ihr reinkleben.«
»Nein, ist schon okay. Ich lasse das Feld leer.«
Sam sah mich an, planschte und gluckste fröhlich: »Mama, Mama!«
»Gut, mein Schatz, wie du magst«, sagte ich zu Maura. »Mach, wie du meinst und was sich gut anfühlt für dich. Ich denke aber, es wäre schöner, wenn du ein Foto von deiner Mom reinklebst.«
»Nein, ich lasse den Platz frei«, wiederholte Maura, sah weg und schüttete sich mit einer großen Tasse Wasser über ihren Arm, an dem noch viele Schaumbläschen hingen, die einfach nicht wegwollten.
Ich rieb ihr die Bläschen auf der Schulter mit meiner Hand weg. »Hast du heute mit Ms Julia gesprochen?«, fragte ich sie, wohl wissend, dass sie dienstags und donnerstags Redestunde bei ihr hatte.
»Hmh«, meinte sie und nickte bestätigend.
»Worüber habt ihr geredet?«
»Ich habe ihr gesagt, dass mich Mommy in den Kindergarten bringen soll.«
»Und was hat Ms Julia dazu gesagt?«
»Sie hat mir gesagt, dass Mommy mich jeden Tag dorthin bringt, weil sie jetzt mein Engel ist.« Maura sah mich skeptisch an und taxierte meine Reaktion. Die alte Maura hätte ihr diese Geschichte ohne Weiteres abgekauft und damit wäre die Sache erledigt gewesen. Die neue Maura dagegen hatte ihre Zweifel an allem und jedem.
»Ich glaube, das stimmt, Maura«, sagte ich und nickte
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