Töchter auf Zeit
Kinder wachsen können. Ergibt das Sinn?«
»Das ist doch doof«, sagte Maura mit immer größer werdenden Augen »Kinder wachsen doch nicht im Garten, auch wenn sie wachsen.«
»Stimmt, das ist echt ein doofer Name«, bestätigte ich sie und schlang meine Arme um sie. Es machte mich glücklich, sie lächeln zu sehen. Ich gab ihr einen Abschiedskuss, drückte sienoch einmal und versprach ihr, dass Sam und ich sie um ein Uhr mittags abholen würden.
»
Versprochen
?«, bohrte Maura nach.
»Ja, Maura,
versprochen.
«
Auf dem Weg nach draußen zu unserem Auto trafen wir Ross, der am Parkplatz stand, an seinen Haaren zupfte und Löcher in den Himmel starrte.
»Hi«, begrüßte ich ihn.
»Hi.«
»Ich dachte, du wärst in einer Besprechung?« Ich schlug einen nicht gerade verständnisvollen Ton an. Als Ross mir erzählt hatte, dass er es nicht schaffen würde, Maura an diesem wichtigen Tag zu begleiten, war ich auch alles andere als subtil gewesen, sondern hatte ihm lang und breit erklärt, weshalb ich das nicht gut fand.
»Ja, war … bin ich«, antwortete er und strich seine Krawatte glatt. »Ich habe verkündet, dass ich eine halbe Stunde Pause bräuchte.«
»Gut.«
»Du hast ihr schon geholfen, sich einzurichten, oder?«
»Ja, aber geh trotzdem zu ihr«, drängte ich ihn. »Sie wäre überglücklich, dich zu sehen.«
»Ich will sie nicht stören, vielleicht haben sie ja schon angefangen.«
»Nein, haben sie nicht. Geh. Na los, mach schon.«
Ross nickte zögerlich und blickte dann zum Gebäude.
»Ross, hör zu, ich weiß, dass du leidest.«
Tränen traten in seine Augen.
Ich streckte meine Hand aus und berührte ihn sanft am Arm. »Ich weiß nicht, wie ich dir das jetzt sagen kann, ohne dir noch mehr wehzutun, aber Maura braucht dich. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr! Du weißt, dass ich mich gerne um sie kümmere, dass ich sie liebe und schätze, als wäre sie mein eigenesKind, aber du musst ein enges Verhältnis zu ihr aufbauen. Du musst sie in deinen Armen wiegen, sie küssen und herzen und sie bei dir schlafen lassen. Ich sag dir was: Du darfst nicht zulassen, dass die Distanz zwischen euch auch nur einen Zentimeter größer wird. Sie braucht dich. Und sie muss spüren, dass ihr Vater für sie da ist.«
»Es tut so verdammt weh«, presste Ross hervor, hielt seine Hand vor die Augen und rieb sie heftig.
»Claire und ich hätten unseren Vater auch gebraucht, Ross, aber er war nicht da. Du musst mir vertrauen, wenn ich dir sage, dass du es eines Tages bitter bereuen wirst, wenn du denselben Fehler machst wie er.«
Ross wandte sich von mir ab, aber ich konnte trotzdem sehen, wie sein Kiefer mahlte, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Als er den Mund öffnete, schluchzte er auf wie ein kleines Kind. Ich schlang meinen Arm um ihn und Sam kuschelte sich in die Lücke zwischen unseren beiden Körpern.
»Ich liebe sie über alles.«
»Das wissen wir alle, Ross, außer ihr, aber sie ist diejenige, die das von dir hören muss.«
Ross nickte und ließ mich nicht los.
»Sie wird außer sich sein vor Freude, wenn sie dich sieht. Geh. Mach schon, geh!«
Jeden Morgen, nachdem Sam und ich Maura in den Kindergarten gebracht hatten, liefen wir quer über den Parkplatz hinüber zur Kirche. Der halbstündige Gottesdienst spielte jetzt zwar eine Rolle in meinem Leben, aber ich konnte nicht sicher sagen, welche. Andererseits gab es viele Dinge in meinem Leben, über die ich nicht sehr gut Bescheid wusste: die Ausrichtung der Planeten, wie Ebbe, Flut und die Sonne zusammenhingen und warum Vögel wussten, dass sie im Herbst gen Süden zu fliegen hatten. Weshalb also sollte ich Gottes Barmherzigkeit begreifenmüssen, um an ihn glauben zu können? Ich hatte noch immer meine Zweifel, die sich damals, als Mom krank geworden war, wie ein Flächenbrand ausgebreitet hatten. Und ich war noch immer wütend: Was für ein Gott nimmt einer Tochter die Mutter, die sie so dringend braucht? Zuerst Mom, dann Claire. Als ich noch ein Kind war und Mom ums Überleben kämpfte, versuchte sie mir zu erklären, dass Gottes Wege unergründlich seien. Und obwohl meine Zweifel an seiner Existenz noch immer zu mir gehörten, konnte ich nicht leugnen, dass ich auf irgendeine Art und Weise, auf irgendeiner Ebene Claire und Mom spüren konnte. Als wären sie noch immer bei mir. Und wenn ich sie noch fühlen konnte, dann waren sie doch nicht ganz verschwunden, oder? Was aber hatte es dann mit Tod und Sterben auf sich? Vielleicht
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