Töchter auf Zeit
wie eine kühle Brise an einem heißen Tag. Wir fütterten Chip, drehten noch eine letzte Runde mit ihm, badeten die Mädchen und zogen ihnen Schlafanzüge an. Dann hieß es auch schon wieder: ab nach unten. Wir ließen Chip aus seiner Kiste und in den Garten, wo er unter dem fröhlichen Gekreische der Kinder wie irr um das Haus flitzte. Erst dann wurde es etwas ruhiger: Sam und Maura machten es sich auf dem Boden bequem, während Chip sich im Kreis drehte und sich dann auf ihrem Schoß niederließ. Ich las den Mädchen ein Buch vor, sie kraulten ihn am Ohr und legten ihn sich abwechselnd auf den Schoß, bis die Müdigkeit siegte. Sam rieb sich die Augen, zupfte an ihren Ohren und krabbelte dann auf meinen Schoß. Dass sie mich als ihr Kissen auswählte, dass ich für sie der richtige Platz zum Einschlafen war, trieb mir Abend für Abend Tränen der Rührung in die Augen. Meine kleine Waise aus China, der ich unterstellt hatte, bindungsunfähig zu sein, hing an mir. Sobald Sam in meinen Armen eingeschlafen war und sich im Schlaf wie ein Koalabär mit ihren Händchen fest in mein Nachthemd krallte, machte ich mit einem Buch weiter, das besser für Mauras Altersstufe geeignet war. Seit Neuestem stand sie auf Kurzgeschichten. Sie legte sich mit Chip auf den Boden und hörte mir meist mit geschlossenen Augen zu. Dann bekam ihr Gesicht einen ganz weichen Ausdruck, die Kummerfalte zwischen ihren Augenbrauen glättete sich und ihre Hände waren nicht länger zur Faust geballt. Mich machte ihr Anblick, wie sie so entspannt dalag, froh und glücklich, denn dann wusste ich, dass sie zumindest für kurze Zeit in eine andere Welt eintauchte und nicht an ihre Mutter dachte.
Wie geplant hatte Ross das blaue Haus mit den gelben Fensterläden gleich gegenüber von unserem Haus gekauft und Maura war schon mit ihm dort eingezogen. Wir hatten uns mit der Einrichtung von Mauras Zimmer große Mühe gegeben, die Wände limettengrün gestrichen, in jeder Steckdose steckte ein Nachtlicht und auf ihrem Bett lagen Dutzende von Stofftieren. Obwohl Maura tagsüber meist bei mir und Sam war, wollte sie allmählich lieber in ihrem eigenen Bett in ihrem eigenen Zimmer schlafen. Martha schaute gegen acht Uhr abends bei uns vorbei und nahm Maura dann mit.
An den meisten Abenden war Ross noch in der Arbeit, wenn es für Maura Schlafenszeit war. Von Tag zu Tag schienen sich die beiden mehr und mehr voneinander zu entfremden. »Ich habe das Gefühl, Claire anzusehen«, hatte Ross einmal nach einem Tag gesagt, den er mit Maura verbracht hatte. Er konnte Mauras Ähnlichkeit mit ihrer Mutter nur schwer ertragen. Sie erinnerte ihn ständig an seinen Verlust. Legt man die fünf Phasen der Trauer zugrunde, steckte Ross inmitten der Wutphase fest. Akzeptanz war nur noch ein Stück weit entfernt, aber es hatte den Anschein, als ob er das gar nicht wollte, als wollte er Claires Tod nicht annehmen, ebenso wenig wie er sich damit auseinandersetzte, was mit Claires persönlichen Dingen und ihrer Kleidung geschehen sollte, die ordentlich in Kisten verstaut waren.
Ich wollte Ross sagen, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte, dass er und Maura enger zusammenrücken müssten, anstatt sich immer weiter voneinander zu entfernen. Ich wollte ihm sagen, dass ich genau wusste, wovon ich sprach, schließlich hatte ich mich damals ähnlich verhalten. Ich hätte meinen Vater gebraucht, aber wir waren alle miteinander zu sehr verletzt, um uns gegenseitig stützen zu können. Ich wollte ihm sagen, dass er nicht aufgeben dürfe. Dass er der Erwachsene war. Dass er an der Reihe war, sich der Herausforderung zu stellen und die Verantwortung für sein Kind zu übernehmen. Dass er mit allenMitteln und auf allen Wegen versuchen müsste, sich seinen Platz in Mauras Leben zu erobern, da sie ihn jetzt mehr brauchte, als er sich in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte.
Der Herbst kam und Maura ging probeweise zurück in den Kindergarten.
Vielleicht wäre sie besser in der Vorschule aufgehoben, aber nach allem, was sie in diesem Jahr durchgemacht hatte, waren die Bezugspersonen in ihrem Leben in Absprache mit ihren Erzieherinnen zu dem Ergebnis gekommen, dass ein weiteres Jahr im Kindergarten für sie einfacher wäre – vor allem, wenn man bedachte, wie ängstlich Maura in den vergangenen Monaten geworden war, wie unsicher. Es schien, als ob finstere Verlustängste sie plagten, die sich ihr wie Schlingpflanzen um den Hals legten, zunächst unbemerkt und dann, mit
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