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Töchter auf Zeit

Töchter auf Zeit

Titel: Töchter auf Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Handford
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einem Mal, so kräftig, dass sie drohten, Maura zu erwürgen.
    Was war aus unserer unbeschwerten und fröhlichen Maura geworden? Ein schüchternes, zurückhaltendes und verängstigtes kleines Mädchen, das Dinge, die sie vor dem Tod ihrer Mutter für selbstverständlich gehalten hatte, infrage stellte. Sie durchlebte Wechselbäder der Gefühle, und selbst starke Gefühle wie das der Verbundenheit und Zugehörigkeit konnten sich von einem Augenblick zum anderen ändern. So konnte es ohne Weiteres passieren, dass sie Trost und Zuwendung bei mir suchte, sich auf meinem Schoß zusammenrollte und dann wie von der Tarantel gestochen aufsprang, zu ihrer Großmutter rannte und sich im nächsten Moment uns beiden verweigerte. Sie hatte sich so sicher gefühlt, hatte an »Für immer und ewig« geglaubt und es als goldene Regel angesehen, dass ihre Mutter fortwährend für sie da sein würde. Doch ihre Mutter hatte sie verlassen, was sie so sehr verunsichert hatte, dass eines schönen Tages den Himmel auf den Kopf zu kriegen nichts Unmögliches mehr für sie darstellte.
    Sams Entwicklung verlief dagegen ganz anders. In dem Augenblick, in dem ich einige von Claires Eigenschaften an denTag legte (zumindest hoffte ich das), entwickelte Sam eine Offenheit, die durchaus an ihre Cousine vor der Katastrophe erinnerte. Sam, das ängstliche Kind aus China, das traumatisiert von ihrem schlechten Lebensstart gewesen war, lernte allmählich, lockerer zu werden, ihre Ängste über Bord zu werfen und zu vertrauen. Sie hatte mit dem kleinen Mädchen, das man mir vor noch nicht einmal einem Jahr in die Hand gedrückt hatte, nichts mehr gemein.
    Obwohl Claire gewollt hätte, dass Maura in die Vorschule wechselte, hatte ich – mit Ross‘ Zustimmung – entschieden, dass sie im St. Mary’s blieb. Ich hatte mich mit dem Thema Trauerarbeit beschäftigt und in einem Buch gelesen, dass es für trauernde Kinder am besten war, wenn vorgegebene Strukturen und Routinen ihren Alltag bestimmen. St. Mary’s schien einen festen Tagesablauf zu haben: Sitzkreis, Malen und Basteln, ein Ave Maria um elf Uhr, anschließend Mittagessen gefolgt von Musik und Spielen. Jeweils am Montag und Donnerstag hatte Maura ein Gespräch mit der leitenden Erzieherin, Ms Julia.
    Am ersten Morgen begleiteten Sam und ich Maura in ihren Gruppenraum, suchten nach
    ihrem Platz und halfen ihr beim Auspacken. Maura sah aufgeregt und traurig zugleich aus. Ihre
    Mundwinkel hingen nach unten, als stünde sie kurz vor einem Zusammenbruch.
    »Was ist los?«, fragte ich sie, kniete mich hin und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
    »Ich sollte einen grünen Stuhl haben, aber der hier ist blau.« Maura deutete auf den Stuhl, als hätte der kleine Bösewicht ihr persönlich etwas angetan.
    »Hm, mein Schatz, viele Dinge sind in diesem Jahr anders als letztes Jahr. Du hast eine andere Lehrerin, einen anderen Stuhl. Du magst doch Blau, oder?« Ich klopfte dem Stuhl sanft auf die Lehne, um ihr zu zeigen, dass er ein ganz lieber Stuhl war, der ihr nichts antun würde.
    »Ich kann die Filzstifte nicht finden», sagte Maura mit finsterem Blick.
    »Dann wollen wir sie mal suchen.« Wir ließen Sam in der Ecke des Raums zurück. Sie stapelte eifrig Bauklötze aufeinander, wohl um den Erzieherinnen klarzumachen, dass sie groß genug wäre, in die Krippe zu gehen.
    »Letztes Jahr waren alle Filzstifte in alten Blechdosen«, sagte Maura und beäugte skeptisch den diesjährigen Behälter: eine große Plastikkiste, in der Filzstifte, Buntstifte und Bleistifte bunt durcheinandergemischt waren. Ein solches Chaos von Stiften war natürlich ein potenzielles Problem. Maura musterte die Stiftstummel, als handele es sich um Asoziale, die sich in eine Nobelgegend verirrt hätten.
    »Du schaffst das«, ermunterte ich sie und kniete mich hin, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein. Dann versuchte ich es als ihr persönlicher Coach. »Du bist doch schon ein so großes Mädchen und gehst in den Kindergarten!«
    »Aber da war ich doch schon letztes Jahr.«
    »Ja, das stimmt«, gab ich ihr recht. »Aber das bedeutet, dass du überall Bescheid weißt und den anderen Kindern helfen kannst, die sich nicht so gut auskennen wie du.«
    Maura dachte kurz über meine Worte nach. »Du meinst, ich soll ihre große Schwester sein? So wie für Sam?«
    »Ganz genau, du zeigst den Neuen, was sie tun müssen.«
    »Weshalb heißt es eigentlich Kindergarten?«
    »Gute Frage, ich glaube, weil ein Kindergarten ein Ort ist, wo

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