Töchter auf Zeit
ich nun und zwar ganz dringend. Ab dem Moment, als mir Claire – mein Rettungsanker – erzählt hatte, dass sie Krebs habe, denselben, der unsere Mutter umgebracht hatte. So schnell konnte eine ganze Welt einstürzen. Claire war also krank und damit war ich an der Reihe, ihr zur Seite zu stehen, so wie sie das mein ganzes Leben lang für mich getan hatte.
Ich könnte mir später immer noch Sorgen um Claire machen – aber erst in ein paar Stunden. Punkt neun Uhr klopfte es an meine Tür. Es war Dr. Elle Reese, die ihren ersten offiziellen Besuch, nachdem wir Sam abgeholt hatten, bei uns abstattete. Vorgesehen waren drei solcher Hausbesuche. Das ganze Wochenende war ich wacklig auf den Beinen gewesen, war die halbe Nacht ziellos im Haus umhergetigert, im Supermarkt in Tränen ausgebrochen, und im Auto hatte ich gefühlte Stunden Löcher in die Luft gestarrt, während Sam im Kindersitz hinter mir tief und fest schlief. Immer wenn ich abschalten konnte und mir mal keine Sorgen um Claire machte, kam mir der anstehende Besuch in den Sinn, und, zack, machte ich mir darüber Sorgen. Was wäre, wenn Elle zu dem Ergebnis käme, dass ich keine gute Mutter bin oder dass ich etwas übersehen hatte? Ich hatte Sam einmal ein Honigbrötchen geschmiert, und zum Glück war Claire da gewesen und hatte mir gesagt, dass Honig für kleine Kinder gefährlich sein konnte.
Reiß dich zusammen
, ermahnte ich mich.
Sam geht’s fantastisch und Sorgen über Claire kannst du dir später immer noch machen.
Mutter zu sein hieß jetzt für mich, dass ich meinen Kummer nur zu bestimmten Zeiten ausleben konnte, ich musste in gewisser Weise einen Termin dafür ausmachen, wie für denBesuch bei einem Zahnarzt. Aus diesem Grund zwang ich mich, früh aufzustehen, buk ein ganzes Blech Scones, schnitt Obst in mundgerechte Häppchen und brühte Kaffee auf. Dann räumte ich das Wohnzimmer auf und ging mit liebevoller Hand durch die Küche. Als Sam sich rührte, wärmte ich ihr Fläschchen und gab sie ihr im Bett. Sie war noch nicht ganz wach und trank mit geschlossenen Augen. Dann wechselte ich ihre Windeln und zog ihr einen ganz süßen Overall und ein Oberteil mit pinkfarbenen Blümchen an.
Ich führte Elle ins Wohnzimmer, wo sie im Polstersessel gegenüber des Sofas Platz nahm. Heute trug sie ein Kleid, das mich an einen indischen Sari erinnerte. Der orangefarbene Seidenstoff mit dem knallgelben und roten Aufdruck und den zahlreichen Perlen und Pailletten schmeichelte ihrer Figur. Ihre Haarmähne hatte sie zu einem Dutt zusammengefasst, den nötigen Halt gab eine reich verzierte Haarnadel. Ihre Zehennägel waren schwarz lackiert und hatten goldene Einsprengsel, dazu trug sie passende goldene Sandalen.
»Ich freue mich, Sie wiederzusehen«, eröffnete Elle unser Gespräch, setzte sich bequem hin und schlug die Beine übereinander. Um ihren Knöchel trug sie ein goldenes Fußkettchen.
Ich ging erst mal in die Küche, holte das Tablett mit dem Kaffee, dem Obst und dem Gebäck und stellte es auf den Hocker. Ich sagte Elle, sie möge sich bitte selbst bedienen. Dann befreite ich Sam aus ihrem Hochstuhl und trug sie zu uns ins Wohnzimmer, setzte sie auf den Orientteppich vor den Korb mit dem pädagogisch wertvollen Spielzeug.
»Ja hallo, meine kleine Sahneschnitte«, begrüßte Elle mein Kind, griff nach einer Rassel und schüttelte sie vor ihr. Elle sah mich an. »Wie macht sich die kleine Sam?«
Ich holte tief Luft und versuchte mich zu beruhigen. Ich hatte mir fest vorgenommen, bei diesem Gespräch alles richtig zu machen, weil ich panische Angst davor hatte, dass einkleiner Fehler mich als unfähige Mutter bloßstellen und mir das Jugendamt Sam wegnehmen würde.
»Sie macht sich wirklich gut«, fing ich an, ihr zu berichten. »Sie kann jetzt schon sitzen, fängt an zu laufen und kapiert sofort, wozu all das tolle Spielzeug hier gut ist. Sie steht auf Bauklötzchen. Sie liebt es, rechteckige auf rechteckige zu stapeln und runde auf runde. Vielleicht wird sie ja mal Maschinenbauer? Sie ist sehr detailverliebt. Sie mag kleine Dinge – na ja, zu klein dürfen sie natürlich nicht sein. Nicht, dass sie sie verschluckt.«
Elle lächelte mich an. »Entspannen Sie sich, Helen. Ich sehe doch, dass sich Sam wunderbar entwickelt. Machen Sie sich da mal keine Sorgen.«
»Schön.«
»Was können Sie mir sonst noch über sie erzählen?«, fragte sie. »Wie sieht ein ganz normaler Tag für sie aus?«
»Also, sie braucht zwei Nickerchen am Tag«,
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