Töchter auf Zeit
sagte ich. »Wir essen gemeinsam und immer zur selben Zeit – drei Mahlzeiten täglich und noch ein paar Snacks zwischendurch. In dem einen Monat, den sie jetzt bei uns ist, hat sie ein Pfund zugenommen und sie ist fast drei Zentimeter gewachsen. Ich war mit ihr beim Kinderarzt, und er will alle Impfungen auffrischen, nur um ganz auf Nummer sicher zu gehen. Sie ist zu allen freundlich und lächelt viel. Sie liebt ihre große Cousine, Maura –«
»Das klingt ja wunderbar«, unterbrach mich Elle. »Ich bin mir sicher, dass Sie sich hervorragend um die Kleine kümmern. Wie entwickelt sie sich? Verläuft ihre Entwicklung altersgerecht oder zeigt sie auffälliges Verhalten?«
»Hm, na ja …«, stammelte ich und wusste nicht so recht, ob ich die Wahrheit sagen oder vom Thema ablenken sollte. »Ein paar Dinge sind mir schon aufgefallen. Ich glaube, sie weiß, dass ich ihre Mom bin und Tim ihr Dad ist, aber ansonsten ist sie nicht gerade wählerisch, wem sie ihre Zuneigung schenkt. Sie schenkt ihre Gunst dem Höchstbietenden, also demjenigen, derhat, was sie gerade haben möchte. Unser Augenkontakt könnte besser sein, aber zum Glück hat sie keine größeren Probleme.«
»Machen Sie sich darüber Sorgen?«
»Nicht wirklich«, beantwortete ich ihre Frage ehrlich. »Ich chatte regelmäßig mit einer der Mütter, die mit uns in China war. Sie hat zwei Mädchen adoptiert und mir versichert, dass so ein Verhalten ganz normal und typisch für solche Kinder ist.«
»Und wie geht es Ihnen?«, wollte Elle dann wissen und sah mich mit ihrem Röntgenblick an.
»Gut!«, grinste ich sie an und nickte begeistert mit dem Kopf. »Wirklich gut.«
Elle sah mich weiterhin mit diesem Ausdruck an, als würde sie mir kein Wort abkaufen. »Frischgebackene Mutter zu sein ist eben kein Kinderspiel. Ist wirklich alles in Ordnung?«
Ich nickte und riss meine Augen weit auf, um die Tränen zurückzudrängen.
»Was ist los?« Elle ließ nicht locker und beugte sich zu mir.
»Meine Schwester hat Krebs«, platzte ich heraus. Ich hatte das Gefühl, meine mühsam zurückgehaltenen Tränen sprudelten aus meinen Augenhöhlen wie ein Springbrunnen. »Wir haben es gerade erst erfahren. Der gleiche Krebs, an dem auch meine Mutter gestorben ist.«
»Oh, das tut mir sehr leid für Sie.«
»Ich bin mir sicher, dass sie wieder gesund wird«, brachte ich hervor und wischte mir mit dem Ärmel übers Gesicht. »Aber ich bin doch gerade erst wieder aus China nach Hause gekommen, und eigentlich ist das die schönste Zeit meines Lebens. Und dann passiert das! Ich fasse es nicht, dass …«
»Dass was?«
»Ach, nichts. Ich denke nur an mich …«
»Das ist schon in Ordnung.«
»Es ist so unfair, dass ich nicht beides haben kann«, rutschte es mir heraus. »Dass ich nicht Sam
und
Claire haben kann oderdamals Mutter
und
Vater. Oder Mutter
und
Claire. Als wäre dies das Muster meines Lebens. Auf etwas Schönes folgt zugleich etwas Schreckliches.«
»Das Leben kann sehr grausam sein.«
Ich nickte und wischte mir über die Augen.
»Sie haben Angst«, sagte Ellen. »Der Krebs Ihrer Schwester kann bedeuten, dass Sie sie verlieren und dass Ihre Nichte ohne Mutter aufwachsen muss.«
»Das darf nicht passieren, ich kann ohne Claire nicht leben.«
»Sie lieben sie sehr, nicht wahr?«
»Es ist mehr als Liebe, wir sind Schwestern.«
»Dass Claire krank ist«, fuhr Elle fort. »Was bedeutete das für Sie als Sams Mutter?«
Ich dachte an Sam und daran, dass ich ihr hoch und heilig versprochen hatte, sie nie im Stich zu lassen, obwohl ich nicht im Ansatz wissen konnte, was die Zukunft uns bringen würde und ob ich mein Versprechen auch würde halten können.
»Das heißt für mich«, sagte ich. »Dass mich der Krebs ebenso gut erwischen kann, wie es Claire passiert ist. Die Ironie an der ganzen Sache ist, dass ich mir in all den Monaten vor der Adoption Sorgen gemacht habe, dass
mich
meine Adoptivtochter eines Tages verlässt. Es kam mir nicht ein einziges Mal in den Sinn, dass ich diejenige sein könnte, die sie allein lassen würde und wie schlimm das für Sam wäre. Claires Krebs hat das alles so real gemacht. Dass auch ich daran erkranken kann. Und allein der Gedanke, dass Sam allein auf sich gestellt ist, ängstigt mich zu Tode.«
»Ja, es tut verdammt weh, wenn einer seiner Lieben gehen muss.«
»Ich wollte Sam eine Kindheit bieten, die ich selbst nie hatte«, sagte ich. »Eine Kindheit, die nicht mit zwölf endet, weil der Vater abhaut, oder mit
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