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Töchter auf Zeit

Töchter auf Zeit

Titel: Töchter auf Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Handford
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und atmete tief durch. Mit zitternden Händen wählte ich Larrys Nummer. Er hob schon nach dem ersten Läuten ab.
    »Ich bin’s, Helen«, meldete ich mich.
    »Bist du wieder aus China zurück?«, stellte er fragend fest. »Danke für das Foto von Sam. Sie ist ein echt süßer Fratz.«
    »Ja, wir sind wieder da und Sam geht es gut. Aber das ist nicht der Grund meines Anrufs.«
    Meine Augen füllten sich mit Tränen – genau das hatte ich vermeiden wollen. Ich wollte und musste stark sein, stark wie Claire. Ich holte tief Luft und ließ die Tränen einfach laufen.
    »Ich rufe an, weil Claire krank ist. Krebs. Eierstockkrebs, wie Mom.«
    »Oh«, wimmerte er. Es hörte sich an wie das gutturale Stöhnen eines Tieres, das in der Falle sitzt.
    Mir wurde ganz schwer ums Herz, und eine tiefe Traurigkeit ergriff mich, die mich zu verschlingen drohte. Mir war klar, wie es nun weitergehen würde: Er würde meine Worte niemals mehr vergessen können.
    »Du und ich, wir beide haben bei Mom versagt«, fuhr ich fort. »Wir waren nicht für sie da, als sie uns gebraucht hätte. Ich werde diesen Fehler bestimmt kein zweites Mal machen.«
    Ich räusperte mich und holte ein weiteres Mal tief Luft. »Unsere Familie ist am Tod von Mom zerbrochen. Ich hoffe, dass wir jetzt wieder zueinanderfinden – für Claire.«
    Larry schluckte schwer und schnaubte laut durch die Nase. Ich wusste, auch ohne ihn zu sehen, dass er ein Taschentuch benutzt hatte.
    »Weshalb ich anrufe, ist …«, sagte ich. »Ich möchte, dass du dir deinen Platz in dieser Familie zurückeroberst. Ich werde dir dabei helfen.«
    »Okay«, antwortete er und dann brach seine Stimme. »Ich werd’s versuchen.«
    »Gut, bis dann. Ich melde mich.«
    In dieser Nacht kuschelte ich mich ganz eng an Tim, und nachdem ich endlich eingeschlafen war, träumte ich von der Zeit, als Claire und ich noch klein waren. Wir hatten aus Sofakissen und Bettlaken eine Höhle gebaut. Es war Sommer, und der Stoff, den wir hoch oben über unseren Köpfen wie einen Baldachin aufgespannt und unten mit Kissen beschwert hatten, fühlte sich kühl auf unserer Haut an. Anschließend lagen wir beide auf dem Rücken am Boden und starrten an die Decke. Die Sonne warf Schatten durch den dünnen Stoff. Dann rollte sich Claire halb auf mich und drückte meine Arme über meinem Kopf fest auf den Boden. Sie kitzelte mich an den Armen, am Bauch und am Hals. »Du bist mein! Du gehörst mir allein!«, sagte sie mit böse klingender Stimme und gackerte wie eine Hexe. Ich lachte und weinte gleichzeitig. Ich flehte sie an aufzuhören, und in der nächsten Sekunde wollte ich, dass sie weitermacht. Endlich rollte sie sich von mir herunter und legte sich neben mich. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie sich ihr Bauch beim Atmen hob und wieder senkte. Ich wälzte mich auf sie, und da lagen wir: Bauch an Bauch. Sie umschloss mich ganz fest mit ihren Armen und sagte mit ganz sanfter Stimme: »Du bist mein! Du gehörst mir allein! Du bist meine kleine Helen.« Und dann verpasste sie mir unzählige Küsse über das ganze Gesicht. Ich wachte auf, mein Herz raste und ich sah mich erschreckt um. Ichschloss meine Augen ganz schnell, weil Claire mich wieder festhalten sollte, aber der Augenblick der Verbundenheit war vorbei. In dem Moment begriff ich, dass mich Claire vielleicht nie mehr umarmen würde. Allein der Gedanke raubte mir den Atem. Ich setzte mich auf, griff mir an die Kehle und schnappte nach Luft.
    »Alles okay«, hörte ich Tim sagen. »Ganz ruhig. Atme ganz langsam und tief ein.«
    Ich versuchte es ja, aber ich konnte nicht mehr schlucken. Ich drohte, an meinen Tränen zu ersticken. Mein Brustkorb war unendlich schwer.
    »Ich hol dir eine Papiertüte«, schlug Tim vor.
    »Lass mich nicht allein«, heulte ich, packte ihn an seinem Oberteil, zog ihn zu mir und vergrub mich an seiner Brust.
    »Alles wird gut«, versuchte mich Tim zu trösten und streichelte meinen Rücken.
    Allmählich bekam ich wieder Luft. Ich kroch förmlich in Tim hinein und ließ meinen Tränen freien Lauf. »O mein Gott, Tim. Was wird aus mir, wenn ich sie verliere? Was mache ich dann nur?«, schluchzte ich. Ich hörte erst auf zu weinen, als ich vor lauter Schluchzen ganz heiser und völlig erschöpft war. Tim hielt mich ganz fest in seinen Armen. Doch auch die engste Berührung konnte mir meine größte Angst nicht nehmen: Früher oder später verlässt mich jeder Mensch, der mir etwas bedeutet.

KAPITEL 17
    Zuversicht. Die brauchte

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