Töchter auf Zeit
dich wirklich gerne sehen und seine Enkelinnen kennenlernen. Ich weiß, was er uns angetan hat. Mir ist klar, dass er nicht für uns da war. Aber trotzdem …«
»Tu, was du tun musst, Helen«, sagte Claire und wirkte erschöpft. »Ich brauche meine ganze Kraft für einen anderenKampf. Wenn du dir das – besser gesagt, ihn – vorknöpfen willst, bitte. Tu dir keinen Zwang an.«
Am Abend warf ich mich quer über Tims Schoß, während er mir übers Haar fuhr. Tränen strömten über mein Gesicht, aber es war ein lautloses Weinen. Es war so ungerecht. Es war nicht fair, dass Claire und ich einander so viel bedeuteten, aber nie wirklich als Schwestern füreinander da sein konnten. Immer gab es einen Grund, weshalb es nicht sein sollte. Als ich noch in die Highschool ging, musste Claire in die Rolle meiner Erzieherin schlüpfen und durfte sich nicht mit ihrer Rolle als Schwester begnügen. Stattdessen musste sie alle Rechnungen zahlen, die Einkäufe erledigen und mir bei den Hausaufgaben helfen. Dann ging ich nach Europa und als ich zurückkehrte, dauerte es nicht lange, bis wir beide vor dem Traualtar standen und unsere eigene Familie gründen wollten. Doch das hatte ja nur in Claires Fall geklappt, und wieder mussten wir jede für sich einen anderen Weg einschlagen. Und jetzt, da wir
endlich
unser Glück gefunden, beide Töchter und Zeit und Lust hatten, unsere Tage gemeinsam zu verbringen, bekam Claire Krebs. Noch vor einer gefühlten Minute gab es in meinem Leben nur Claire, aber keine Sam. Und jetzt hatte ich zwar Sam, aber ich könnte Claire jederzeit verlieren. Ich wollte doch mein Leben mit ihr teilen. Ich wollte ein Picknick im Zoo, ich wollte gemeinsame Urlaube und ich wollte, dass die beiden Mädchen zusammen aufwuchsen. Ich wollte, dass Claire mich bei der Hand nahm, wenn Sam zum ersten Mal in den Kindergarten ging. Und ich wollte diejenige sein, die Claire beruhigte, wenn Maura die Highschool abschließen und aufs College gehen würde.
»Du hast gesagt, dass Claire bei den Vorsorgeuntersuchungen war«, sagte Tim auf einmal. »Wann hast du dich das letzte Mal untersuchen lassen?»
»Das ist bestimmt schon ein paar Jahre her.«
»Weshalb gehst du da nicht regelmäßig hin?«
»Weil ich in den letzten fünf Jahren nur eines im Kopf hatte: schwanger zu werden und ein Baby auf die Welt zu bringen. Na ja, ab und zu habe ich schon mal an die Krebsvorsorge gedacht, aber ich war wie besessen von meiner Unfruchtbarkeit, sodass ich es dann doch verdrängt habe.«
»Bitte geh zum Arzt. So schnell wie möglich!«
»Ja, das mach ich. Ich war gerade im Internet. Dort habe ich gelesen, dass bei achtzig Prozent der Opfer –
Opfer
, als ob ihnen jemand eine Pistole an den Kopf hält – der Krebs erst im Endstadium festgestellt wird. So war es auch bei Mom.«
»Wenn Claire regelmäßig bei den Vorsorgeuntersuchungen war«, meinte Tim, »wird sie den Kampf gegen den Krebs entgegen aller Wahrscheinlichkeit gewinnen. Vermutlich wurde er noch rechtzeitig erkannt.«
»Worauf du wetten kannst«, erwiderte ich. »Claire hat sich schon immer durchgesetzt. Wenn jemand diesen Kampf gewinnt, dann sie.«
»Du musst dich untersuchen lassen, Helen«, beharrte Tim. »Auch wenn es in den meisten Fällen sinnlos ist. Aber nur wenn du regelmäßig hingehst, wirst du mit den modernsten Gerätschaften untersucht. Und auch bei der Therapie tut sich einiges!« Tim zog mich an sich. »Leider kommt Krebs in eurer Familie häufig vor, Helen. Leichtsinn kann den Tod bringen.«
»Du hast ja recht«, räumte ich ein. »Gleich morgen mache ich einen Termin aus.« Ich stand auf und lief ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen. Ich hatte Tim nicht die ganze Wahrheit gesagt. Der Gedanke, an Krebs zu erkranken, hatte mich schon des Öfteren mehr als einmal in Panik versetzt. Einmal wollte ich sogar mein Blut auf meine genetische Disposition hin untersuchen lassen, aber ich sagte den Termin in letzter Minute ab. Hätte man mir meinen Verdacht bestätigt, dass ich wegen Moms Eierstockkrebs schneller als der Durchschnitt anKrebs erkranken könnte, hätte ich garantiert eine Verbindung zwischen Moms Genen und meiner Unfruchtbarkeit gesehen. Damals hatte ich mehr Angst vor der Diagnose, nie ein eigenes Kind haben zu können, als davor, dass ich einmal Krebs kriegen könnte.
Während Tim alle Haustüren abschloss, ging ich noch mal ins Wohnzimmer hinunter und schnappte mir das Telefon. Ich hielt es in der Hand, beugte mich vornüber
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