Töchter auf Zeit
Aufgaben.«
»Oh doch«, sagte sie bestimmt. »Der Untersuchungsbericht ist nur ein kleiner Teil meines Jobs. Es gehört definitiv zu meinen Aufgaben, Adoptiveltern zu coachen, und dazu gehört nun mal der ganze Ballast, den sie mit sich herumschleppen.«
Nachdem Elle gegangen und ich mir ziemlich sicher war, dass sie Sams Zustand und mich als Mutter für zufriedenstellend befand, nahm ich meine Tochter aus dem Laufstall und legte sie aufs Sofa. Sie wimmerte kurz, ließ sich aber ohne Protest hinlegen.
»Na, mein Schatz?«, flüsterte ich und streichelte durch ihr flaumiges Haar. »Hast du etwa vor, mich zu verlassen?« Der Gedanke, dass Tim recht haben könnte, ließ mich nicht mehr los. Vielleicht konnte ich es gar nicht mehr glauben, dass es in meinem Leben so etwas wie konstante Bezugspersonen gab, die immer bei mir blieben.
In der folgenden Nacht träumte ich von Sam. Sie war schon groß, musste wohl um die zwanzig sein und ging ins College. Sie war bildhübsch und studierte zum Erstaunen ihrer Mitmenschen Mathematik oder Physik, aber für sie waren diese Fächer genau das Richtige.
Ich sah sie bei einer Verabredung mit ihrem künftigen Ehemann, er sah etwas älter aus als sie und stand wohl kurz vor demAbschluss. Er sah gut aus, war unternehmungslustig und er war Chinese. Er wollte Sam seinen Eltern vorstellen, die sie beide zum Essen eingeladen hatten. Es gab chinesisches Essen und zunächst unterhielten sie sich auf Englisch, dann auf Mandarin und dann wieder auf Englisch. Sie erklärten Sam, was die Seidenrollen, die an der Wand hingen, zu bedeuten hatten. Sie fragten sie über ihren Heimatort und die Provinz aus, aus der sie stammte. Zufällig hatten sie auch Freunde und Verwandte in der Gegend. Sie erzählten ihr mehr über ihre alte Heimat, als ich es in den letzten zwanzig Jahren geschafft hatte. Bei der Verabschiedung sah Sam über die Schulter und sah mich in der Tür stehen. Sie zuckte nur mit den Schultern und ging dann zu ihrem Freund, der sie wie ein Magnet anzuziehen schien und ihr das Leben bieten konnte, für das sie vorhergesehen war, das sie aber aufgrund unglückseliger Umstände nicht hatte führen können. Im Endeffekt erging es ihr wie mir damals, als ich Hals über Kopf in Tims Familie landete, die mir die Sicherheit und Stabilität gab, die ich als Kind nicht gekannt hatte. Sam nahm ihren Platz in der chinesischen Familie ein, anscheinend ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen.
Als ich mitten in der Nacht aufwachte und den Traum Revue passieren ließ, kam ich wieder zu dem Schluss, dass Tim mit seiner Analyse richtiglag: Anscheinend war ich darauf programmiert, verlassen zu werden. Dann drehte ich mich auf die Seite und befahl mir, an die schönen Dinge zu denken, von denen ich ja auch geträumt hatte: Sam war nämlich in den Weihnachtsferien zu uns nach Hause gekommen, hatte sich auf dem Sofa an mich gekuschelt und mir die ganze Nacht von ihrem ersten Semester am College vorgeschwärmt.
Ich sog dieses Bild förmlich in mich auf, wollte es verinnerlichen. Aber das war alles andere als einfach. Ich konnte nicht, denn irgendwie kam es mir kindisch und abergläubisch vor, mirauf fantastische Weise Hoffnung zu verleihen, dass Sam bei mir bliebe. Vielleicht sollte ich es langsamer angehen.
Als ob Sam meine Gedanken lesen könnte, wimmerte sie kurz auf, trat mich gegen die Brust und sah mich an, als ob sie mir sagen wollte:
Hey, Mom, das wird nicht passieren. Ich werde dich nicht verlassen, solange auch du bei mir bleibst.
»Ich werde immer für dich da sein, mein Kind.«
KAPITEL 18
Am darauffolgenden Montag sollte Claires Operation stattfinden. Ross und sie lieferten Maura auf dem Weg ins Krankenhaus bei mir ab. Claire, wie immer perfekt gekleidet in Khakihosen und Kaschmirpulli, kniete sich vor ihre Tochter hin. »Sei lieb zu Tante Helen, okay?« Mit weit aufgerissenen Augen zog Maura einen Schmollmund und nickte bloß.
»Wir werden uns prächtig amüsieren, Maura!«
Maura begann zu weinen, offenbar spürte sie, dass ihre Mutter verletzlich war.
Sie war quengelig und wollte ihre Eltern nicht gehen lassen, was den Abschied für ihre Eltern noch schwerer machte, als er ohnehin war. Tja, wer hätte gedacht, dass eine Vierjährige, die ihr Wissen aus Sendungen wie
Blau und schlau
oder
Dora
bezog, mit dem Satz »Mom muss ins Krankenhaus« überhaupt etwas anfangen konnte. Aber ihr Gefühl trog sie nicht. In ihren Augen stand die Sorge um ihre Mutter geschrieben und
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