Toechter Aus Shanghai
darauf.
Wenn May in einem ärmellosen Kleid, ohne Strümpfe und mit zehenfreien Sandalen durch das große Zimmer schwirrt, beschwert sich Yen-yen: »In der Öffentlichkeit solltest du dich nicht so sehen lassen.«
»In Los Angeles laufen die Frauen gerne mit nackten Armen und Beinen herum«, entgegnet May.
»Aber du bist kein lo fan «, argumentiert Yen-yen.
Doch über nichts lässt sich besser streiten als über Joy. Wenn Yen-yen sagt: »Sie sollte einen Pullover anziehen«, antwortet May: »Ihr ist jetzt schon so heiß wie einem Maiskolben auf dem Grill.« Wenn Yen-yen bemerkt: »Sie sollte Sticken lernen«, entgegnet meine Schwester: »Sie sollte Rollschuhfahren lernen.«
Am meisten stört es Yen-yen, dass May in der Filmbranche arbeitet und Joy diesem minderwertigen Treiben aussetzt. Mir gibt sie die Schuld dafür, weil ich es zugelassen habe.
»Wieso erlaubst du ihr, Joy dorthin mitzunehmen? Du willst doch, dass dein Mädchen eines Tages heiratet. Glaubst du denn, jemand will eine Braut, die ihr Schatten-Ich in irgendwelche Schundgeschichten steckt?«
Bevor ich etwas entgegnen kann - was ich wahrscheinlich gar nicht soll -, widerspricht meine Schwester: »Das ist kein Schund. Die Geschichten sind bloß nicht für Leute wie dich gedacht.«
»Die einzig richtigen Geschichten sind die alten. Sie zeigen uns, wie wir leben sollen.«
»Filme zeigen uns auch, wie wir leben sollen«, gibt May zurück.
»Joy und ich helfen dabei, neue, romantische Geschichten von Helden und guten Frauen zu erzählen. Es geht nicht um Mondgöttinnen und Geistermädchen, die nach Liebe schmachten.«
»Du bist zu einfach gestrickt«, schimpft Yen-yen. »Darum ist es gut, dass deine Schwester auf dich aufpasst. Du musst von deiner jie jie lernen. Sie hat begriffen, dass nur diese alten Geschichten uns etwas zu sagen haben.«
»Was weiß Pearl denn schon?«, fragt May, als wäre ich gar nicht anwesend. »Sie ist genauso altmodisch wie unsere Mutter.«
Wie kann sie mich als altmodisch bezeichnen? Wie kann sie mich mit Mama vergleichen? Zugegeben, durch meine Sehnsucht nach unserer Heimat, nach der Vergangenheit und nach unseren Eltern bin ich in vielerlei Hinsicht wie Mama geworden. Die ganzen alten Vorstellungen über Tierkreiszeichen, Essen und andere Traditionen spenden mir Trost, aber ich bin nicht die Einzige, die Ermutigung in der Vergangenheit sucht. May mit ihren zwanzig Jahren ist fröhlich, quirlig und sicherlich eine Ausnahme, doch ihr Leben - auch wenn sie Zugang zu Filmsets hat und sich toll anziehen kann - ist nicht so, wie sie es sich als Kalendermädchen in Shanghai erträumte. Wir müssen beide mit unseren Enttäuschungen leben, aber ich wünschte, May hätte ein wenig mehr Mitgefühl.
»Wenn du in deinen Filmen lernst, romantisch zu sein, warum gelingt das dann deiner Schwester, die jeden Tag mit mir verbringt, besser als dir?«, fragt Yen-yen.
»Ich bin romantisch!«, widerspricht ihr May und läuft Yen-yen damit in die Falle.
Meine Schwiegermutter lächelt. »Nicht romantisch genug, um mir einen Enkelsohn zu schenken! Du solltest mittlerweile schon ein Kind haben...«
Ich seufze. Streitigkeiten zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter sind so alt wie die Menschheit. Angesichts solcher Gespräche bin ich froh, dass May und Joy meistens bei Dreharbeiten sind und ich mit Yen-yen allein zu Hause bin.
Nachdem wir unseren Männern in China City das Mittagessen gebracht haben, gehen Yen-yen und ich dienstags immer von Tür zu Tür. Wir werden in jeder Pension, jeder Wohnung und jedem Lebensmittelladen in der Spring Street vorstellig, sogar drüben in New Chinatown, um Geld für United China Relief und die Rettung der Heimat zu sammeln. Wir tun mittlerweile mehr, als nur zu demonstrieren. Mit leeren Konservendosen als Sammelbüchsen gehen wir in den Mei Ling, den Gin Ling und den Sun Mun Way und drehen erst um, wenn unsere Büchsen mindestens halb voll mit Münzen sind. In China hungern die Menschen, daher besuchen wir auch Lebensmittelgeschäfte und bitten die Inhaber, importierte chinesische Nahrungsmittel zu spenden, die wir verpacken und dorthin schicken, wo sie hergekommen sind: nach China, nach Hause.
Bei dieser Arbeit lerne ich Menschen kennen. Jeder möchte wissen, wie mein Geburtsname lautet und aus welchem Dorf ich stamme. Ich treffe mehr Wongs, als ich zählen kann. Ich lerne viele Lees, Fongs, Leongs und Moys kennen. In dieser Zeit beschwert sich der Alte Herr Louie nicht ein einziges Mal
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