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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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darüber, dass ich alle Chinatowns abklappere oder jeden Tag mit Fremden zusammenkomme, denn ich bin immer in Begleitung meiner Schwiegermutter, die in mir nicht mehr die verachtete Schwiegertochter sieht, sondern eher eine Freundin, der sie sich anvertraut.
    »Als kleines Mädchen wurde ich aus meinem Dorf entführt«, erzählt sie mir eines Dienstags, als wir uns von New Chinatown über den Broadway auf den Rückweg machen. »Wusstest du das?«
    »Nein. Das tut mir leid«, sage ich, aber das drückt nicht einmal ansatzweise meine Gefühle aus. Ich wurde aus meinem Zuhause vertrieben, kann mir jedoch nicht vorstellen, gewaltsam dem Elternhaus entrissen zu werden. »Wie alt warst du?«
    »Wie alt ich war? Woher soll ich das wissen? Ich habe niemanden, der mir das sagen könnte. Vielleicht war ich fünf. Vielleicht
war ich älter, vielleicht jünger. Ich weiß noch, dass ich einen Bruder und eine Schwester hatte. Ich erinnere mich an die Ginkgobäume, die in meinem Heimatdorf an der Hauptstraße standen. Ich erinnere mich an einen Fischteich, aber den hat wohl jedes Dorf.« Sie hält kurz inne, bevor sie fortfährt. »Ich habe China vor langer Zeit verlassen, aber es ist meine Heimat. Ich sehne mich jeden Tag danach, und ich leide, wenn China leidet. Deshalb strenge ich mich so an, Geld für China Relief aufzutreiben.«
    Kein Wunder, dass Yen-yen nicht kochen kann. Ihre Mutter hat es ihr nicht beigebracht, so wie meine es mir nicht beigebracht hat - aber aus unterschiedlichen Gründen. Yen-yen verlangt es nicht nach besseren Speisen, denn sie hat keine Erinnerungen an Haifischflossensuppe, knusprigen Aal aus dem Yangtze oder geschmorte Taube in Salatblättern. Sie klammert sich an alte Traditionen - überholte Traditionen -, genau wie ich mich jetzt daran festhalte: als Hilfe zum inneren Überleben, als Möglichkeit, alte Erinnerungen nicht zu verlieren. Vielleicht ist es besser, einen Husten mit Wachskürbistee zu behandeln als mit einem Senfpflaster auf der Brust. Ja, Yen-yens uralte Geschichten und ihre altmodische Art beeinflussen mich, verändern mich, machen mich »chinesischer«, so selbstverständlich, wie Ingwer seinen Geschmack an die Suppe abgibt.
    »Was ist denn passiert, nachdem sie dich entführt haben?«, frage ich und empfinde tiefes Mitgefühl.
    Yen-yen bleibt stehen, die Tüten mit den Spenden in der Hand. »Was meinst du wohl, was passiert ist? Du hast doch schon unverheiratete Mädchen ohne Familie gesehen. Du weißt, was mit ihnen geschieht. Ich wurde in Kanton als Dienstbotin verkauft. Sobald ich alt genug war, wurde ich ein Mädchen mit drei Löchern.« Sie reckt das Kinn vor. »Eines Tages, ich war vielleicht dreizehn, wurde ich in einen Sack gesteckt und auf ein Schiff gebracht. Und schon war ich in Amerika.«
    »Und Angel Island? Haben sie dir keine Fragen gestellt? Warum haben sie dich nicht zurückgeschickt?«

    »Damals gab es das Lager auf Angel Island noch gar nicht. Manchmal schaue ich in den Spiegel und staune darüber, was ich sehe. Ich rechne immer noch damit, dass mir das Mädchen von damals entgegenblickt, aber ich denke nicht gerne an diese Zeit zurück. Was kümmert es mich jetzt? Glaubst du etwa, ich war gerne die Frau von vielen Männern?« Sie schlurft weiter die Straße entlang, und ich beeile mich, mit ihr Schritt zu halten. »Ich habe zu oft getan, was Eheleute tun. Es wird immer so viel Aufhebens darum gemacht, doch wozu? Der Mann dringt ein. Der Mann zieht sich wieder heraus. Wir Frauen verändern uns nicht. Weißt du, was ich meine, Pearl-ah?«
    Weiß ich das? Sam ist anders als die Männer in der Hütte, das ist mir klar. Aber habe ich mich nicht auch verändert? Ich denke daran, wie oft Yen-yen auf dem Sofa geschlafen hat. Normalerweise schläft dort irgendein unverheirateter Neuankömmling - ein Einwanderer aus China, der auf der Teilhaberliste des Alten Herrn Louie steht, bis seine Schulden von jemandem bezahlt werden, der eine billige Arbeitskraft braucht. Doch wenn gerade niemand da ist, trifft man Yen-yen morgens im großen Zimmer an. Sie legt die Bettdecken zusammen und erfindet eine Ausrede nach der anderen: »Der Alte Herr schnarcht wie ein Wasserbüffel.« Oder: »Ich habe Rückenschmerzen. Hier ist es bequemer.« Oder: »Der Alte Herr sagt, ich flattere im Bett herum wie eine Mücke. Er kann nicht schlafen. Wenn er nicht schläft, sind alle am nächsten Tag unzufrieden, nicht wahr?« Jetzt begreife ich, warum sie auf dem Sofa schläft. Aus demselben Grund

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