Toechter Aus Shanghai
Ich war glücklich. Doch das Glück ändert dein Schicksal nicht. Die Hebamme kam, um Vernon zu holen. Sie hat sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Sie sagte, das käme manchmal vor, wenn die Mutter alt ist. Ich muss bei seiner Geburt schon über vierzig gewesen sein. Sie musste...«
Sie bleibt vor einem Geschäft stehen, in dem Lotterielose verkauft werden, und setzt ihre Sachen ab und krümmt die Hände zu Krallen. »Mit solchen Dingern hat sie ihn aus mir herausgezogen. Sein Kopf war ganz eingedellt, als er kam. Sie hat ihn erst auf der einen, dann auf der anderen Seite zurechtgedrückt, aber …«
Sie nimmt wieder ihre Tüten. »Als Vern ein kleines Baby war, wollte der Alte Herr wieder nach China, um noch einen Papiersohn zu holen. Wir hatten doch die Bescheinigung. Unsere letzte. Ich wollte nicht mit. Mein Sam war im Heimatdorf gestorben. Ich wollte nicht, dass mein neues Baby auch starb. Der Alte Herr sagte: ›Mach dir keine Sorgen. Du stillst das Baby einfach die ganze Zeit.‹ Also sind wir nach China gefahren, haben Edfred geholt, sind wieder an Bord eines Schiffes gegangen und haben ihn hierhergebracht.«
»Und Vern?«
»Du weißt doch, was sie über die Ehe sagen. Sogar ein Blinder findet eine Frau. Sogar ein Mann ohne Verstand findet eine Frau. Sogar ein Gelähmter findet eine Frau. Die Männer haben nur eine einzige Pflicht. Sie müssen einen Sohn zeugen.« Kläglich wie ein Vogel schaut sie zu mir auf, aber ihr Wille ist hart wie Jade. »Wer versorgt den Alten Herrn und mich im Jenseits, wenn wir keinen Enkelsohn haben, der uns Opfer bringt? Wer kümmert sich um meinen Jungen im Jenseits, wenn deine Schwester ihm keinen Sohn schenkt? Wenn nicht sie, Pearl, dann musst du es tun, auch wenn es ein Papierenkel ist. Deshalb behalten wir dich hier. Deshalb ernähren wir dich.«
Meine Schwiegermutter betritt die Kurzwarenhandlung, um
ihr wöchentliches Lotterielos zu kaufen - die ewige Hoffnung der Chinesen -, aber mich erfüllt große Sorge.
Ich kann es kaum erwarten, dass May nach Hause kommt. Sobald sie durch die Tür tritt, bestehe ich darauf, dass sie mit mir nach China City geht, wo Sam am Wiederaufbau arbeitet. May, Sam und ich setzen uns auf Kisten, und ich erzähle den beiden, was ich von Yen-yen erfahren habe. Sie sind nicht im Mindesten überrascht.
»Dann habt ihr mir entweder nicht richtig zugehört, oder ich habe es nicht richtig erzählt. Yen-yen hat gesagt, sie wären immer in das Heimatdorf des Alten Herrn gefahren, um seine Eltern zu besuchen. Er hat stets behauptet, er wäre hier geboren worden, aber wenn seine Eltern in China gelebt haben, kann das doch nicht sein, oder?«
Sam und May werfen sich einen Blick zu, dann sehen sie mich an.
»Vielleicht lebten seine Eltern auch hier in Amerika, der Alte Herr kam hier zur Welt, und später kehrten sie nach China zurück, um dort ihren Lebensabend zu verbringen«, schlägt May vor.
»Das ist möglich«, sage ich. »Doch wenn er hier geboren wurde und fast siebzig Jahre lang hier gelebt hat, warum spricht er dann nicht besser Englisch?«
»Weil er nie aus Chinatown herausgekommen ist«, meint Sam.
Ich schüttle den Kopf. »Denkt doch mal nach! Wenn er hier geboren wurde, warum ist er dann China so treu ergeben? Warum lässt er Yen-yen und mich hinaus, um für China zu demonstrieren und Geld zu sammeln? Warum sagt er immer, er möchte seinen Lebensabend ›zu Hause‹ verbringen? Warum versucht er so verzweifelt, uns zusammenzuhalten? Weil er gar kein amerikanischer Staatsbürger ist. Und wenn er kein amerikanischer Staatsbürger ist, dann bedeutet das für uns...«
Sam steht auf. »Ich will die Wahrheit wissen.«
Wir finden den Alten Herrn Louie in einem Nudelimbiss in der Spring Street, wo er mit seinen Freunden Tee trinkt und Gebäck isst. Als er uns sieht, steht er auf und kommt zur Tür.
»Was wollt ihr? Warum arbeitet ihr nicht?«
»Wir müssen mit dir reden.«
»Nicht jetzt. Nicht hier.«
Aber wir drei lassen uns nicht abwimmeln. Wir wollen Antworten. Der Alte Herr Louie winkt uns in eine Nische, die weit genug von seinen Freunden entfernt ist, dass sie unser Gespräch nicht mithören können. Seit der Auseinandersetzung zwischen Sam und dem Alten Herrn Louie an Neujahr sind Monate vergangen, doch in Chinatown wird immer noch darüber getuschelt. Der Alte Herr Louie hat sich bemüht, freundlicher zu sein, aber zwischen ihm und Sam herrscht immer noch eine angespannte Stimmung. Sam verschwendet keine Zeit mit
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