Toechter Aus Shanghai
das sagt. Sicher gab es eine Zeit, als ich nicht an diese Dinge glaubte, aber das ist schon lange her. In meinem Herzen weiß ich genau, dass meine Schwester für immer ein Schaf sein wird, dass ich einfach ein Drache bin, Joy ein Tiger, und dass mein Mann ein Ochse war - zuverlässig, systematisch, ruhig und, wie Violet sagt, ein Träger vieler Lasten. Dieser Satz zeigt wie so vieles, was in letzter Zeit aus Mays Mund kommt, wie wenig sie über mich weiß. Warum habe ich das bisher nicht gemerkt?
Violet reagiert nicht auf May, sondern tätschelt mir das Knie und zitiert ein altes Sprichwort: »Alles Leichte und Reine schwebt nach oben und wird Teil des Himmels.«
In meinem Leben sind keine drei Meilen flach gewesen. Keine drei Tage hat die Sonne geschienen. Ich bin mutig gewesen, aber jetzt bin ich mehr als erschüttert. Meine Trauer ist wie eine schwere Wolke, die sich nicht vertreiben lässt. Ich kann nicht über die Schwärze meiner Kleidung und meines Herzens hinausdenken.
Später am Abend, nachdem Vern gefüttert worden ist, die Lichter ausgemacht wurden und Joy mit zwei Mädchen der Yees Tee trinken gegangen ist, klopft May an meine Tür. Ich stehe auf und öffne. Ich trage ein Nachthemd, mein Haar ist durcheinander, im Gesicht habe ich rote Flecken vom Weinen. Meine Schwester trägt ein schmales Etuikleid aus smaragdgrüner Seide, ihr Haar ist unglaublich hoch toupiert, an ihren Ohren hängen Ohrringe aus Diamant und Jade. Sie will irgendwohin. Ich mache mir nicht die Mühe, sie danach zu fragen.
»Der zweite Koch war heute nicht im Café«, sagt sie. »Was soll ich tun?«
»Ist mir egal. Wie du es machst, ist es schon richtig.« »Ich weiß, dass es eine schwere Zeit für dich ist, und das tut mir leid. Wirklich. Aber ich brauche dich. Du kannst dir nicht vorstellen, welchen Ärger ich jetzt mit dem Café, mit Vern, der Verantwortung für das Haus und für mein Geschäft habe. Im Moment ist so viel los.«
Ich höre ihr zu, während sie laut überlegt, wie viel sie einer Produktionsfirma für Komparsen, Kostüme und Requisiten wie Schubkarren, fahrbare Garküchen und Rikschas abknöpfen soll.
»Ich kalkuliere meine Vermietungen immer mit zehn Prozent des Werts«, fährt sie fort. Ich verstehe, dass May mich aus meinem Zimmer locken will, damit ich wieder am Leben teilhabe und ihr wie früher helfe, aber ganz ehrlich: Ich weiß nicht das Geringste über ihren Verleih, und im Moment ist er mir völlig egal. »Sie
wollen einige Stücke für mehrere Monate mieten, vielleicht sogar für ein Jahr, und manche dieser Sachen sind unersetzlich, die Rikschas zum Beispiel. Was meinst du, wie viel Miete soll ich ihnen berechnen? Eine Rikscha kostet ungefähr zweihundertfünfzig Dollar, ich könnte ihnen also fünfundzwanzig Dollar pro Woche abnehmen. Aber ich denke, ich sollte mehr verlangen, denn wo soll ich Ersatz herbekommen, wenn irgendwas damit passiert?«
»Egal, was du tust, es wird schon richtig sein.«
Ich will die Tür schließen, doch May hält sie fest und zieht sie auf. »Warum lässt du mich nicht herein? Du könntest mal duschen. Ich könnte dir dein Haar machen. Vielleicht könntest du ein Kleid anziehen, dann könnten wir einen kleinen Spaziergang machen …«
»Ich will deine Pläne nicht durchkreuzen«, sage ich, doch ich denke bei mir: Wie oft hat sie mich in Shanghai mit unseren Eltern allein zu Haus gelassen? Wie oft ließ sie mich mit Yen-yen und jetzt mit Vern allein, damit sie ausgehen konnte und machen konnte ... was auch immer das war.
»Du musst wieder unter die Lebenden...«
»Es ist erst zwei Wochen her...«
May sieht mir in die Augen. »Du musst einen Schritt nach vorn machen und bei deiner Familie sein. Joy fährt bald nach Chicago zurück. Du musst mit ihr reden...«
»Erzähl du mir nicht, wie ich meine Tochter zu behandeln habe …«
May packt mich an den Händen, schließt die Finger um Mamas Armreif. »Pearl.« Sie schüttelt meine Hände leicht. »Ich weiß, dass es furchtbar für dich ist. Eine große Traurigkeit. Aber du bist noch jung. Du bist noch schön. Du hast deine Tochter. Du hast mich. Und du hast alles gehabt. Sieh doch, wie Joy dich liebt. Sieh, wie Sam dich geliebt hat.«
»Ja, und jetzt ist er tot.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagt sie mitfühlend. »Ich wollte dir bloß helfen. Ich hätte nicht gedacht, dass er sich umbringen würde.«
Ihre Worte schweben wie elegante Kalligrafiezeichen vor mir in der Luft, in schwerer Stille lese ich sie immer wieder,
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