Toechter Aus Shanghai
vom Bestatter ab und bringt mich nach Hause. Im Auto sagt sie: »Du und Sam, ihr wart wie ein Paar Mandarinenten, immer füreinander da. Wie zwei Essstäbchen, harmonisch aufeinander abgestimmt.« Ich danke ihr für ihre traditionellen Worte, doch sie helfen mir nicht.
Ich bleibe die ganze Nacht wach. Ich höre, wie sich Vern im Nachbarzimmer herumwirft und wie May leise meine Tochter auf der Veranda tröstet, doch irgendwann werden das Haus und alle darin still. Fünfzehn Eimer ziehen Wasser aus dem Brunnen, siebenmal hoch und achtmal hinunter - das bedeutet: mich quälen Sorgen, Zweifel und die absolute Unfähigkeit zu schlafen, weil ich von Träumen heimgesucht werden würde. Ich stehe am Fenster, eine leichte Brise spielt mit meinem Nachthemd. Es kommt mir vor, als scheine das Mondlicht auf mich allein. Manche sagen, Ehen würden im Himmel geschlossen, das Schicksal bringe selbst weit auseinander lebende Menschen zusammen, schon vor der Geburt sei alles vorherbestimmt, und egal, wie weit wir von unseren Pfaden abschweifen, ganz gleich, wie unser Glück sich wandelt - zum Guten oder zum Schlechten -, können wir doch nichts anderes tun, als die Fügung zu erfüllen. Das sei letztendlich unser Segen und unser Leid.
Reue brennt mir auf der Haut und gräbt sich in mein Herz.
Ich habe mit Sam nicht oft genug das getan, was Eheleute tun. Zu oft habe ich in ihm lediglich den Rikschafahrer gesehen. Durch meine Sehnsucht nach der Vergangenheit gab ich ihm das Gefühl, er sei nicht genug, unser gemeinsames Leben sei nicht genug, Los Angeles sei nicht genug. Schlimmer noch, ich habe ihm in diesen letzten Tagen nicht treu genug zur Seite gestanden. Ich hätte entschiedener gegen das FBI, die INS und diesen ganzen Einwanderungsschlamassel kämpfen sollen. Warum habe ich nicht gesehen, dass er unsere Last nicht länger mit seinem eisernen Fächer tragen konnte?
Am frühen Morgen gehe ich nicht über die Veranda, sondern durch die Haustür nach draußen und um das Haus herum in den Garten. Ich weiß, dass unser Viertel von zu vielen Selbstmorden heimgesucht wird, aber es kommt mir vor, als habe Sams Tod dem unendlichen menschlichen Ozean aus Elend und Leid ein neues Salzkorn hinzugefügt. Ich stelle mir vor, wie meine Nachbarn jenseits meines rosenumrankten Maschendrahtzauns ratlos dasitzen und über das Elend der Welt klagen. In jenem Moment der Ruhe und Trauer weiß ich, was ich zu tun habe.
Ich gehe in mein Zimmer, suche ein Foto von Sam heraus und trage es zum Familienaltar im Wohnzimmer, den er immer gepflegt hat. Ich stelle sein Bild neben die Aufnahmen von Yen-yen und Vater. Ich betrachte die anderen Dinge, die Sam für all diejenigen, die wir verloren haben, auf den Altar gestellt hat: für meine Eltern, seine Eltern, Brüder und Schwestern, für unseren Sohn. Ich hoffe für Sam, dass seine Version des Jenseits existiert und dass er jetzt bei den Verstorbenen ist, dort von der Aussichtsterrasse hinunterschaut und mich, Joy, May und Vern beobachtet. Ich zünde ein Räucherstäbchen an und verbeuge mich dreimal. Auch wenn ich meinen eigenen Gott habe, verspreche ich, diesen Altar jeden Tag zu ehren, bis ich sterbe und Sam in seinem oder meinem Himmel wiedersehe.
Ich glaube nur an den einen Gott, aber gleichzeitig bin ich Chinesin, deshalb berücksichtige ich bei Sams Beerdigung beide
Traditionen. Eine chinesische Beerdigung - das wichtigste aller Rituale - ist die letzte Gelegenheit, dem Menschen Respekt zu erweisen, der uns verlassen hat, ihm die Ehre zu geben, sein Gesicht zu wahren, und den Nachfahren von den Leistungen und Taten ihres jüngsten Verstorbenen zu berichten. Das alles wünsche ich mir für Sam. Ich suche den Anzug aus, den er im Sarg tragen soll. Ich schiebe Fotografien von Joy und mir in seine Taschen, damit wir bei ihm sind, wenn er in den chinesischen Himmel kommt. Ich achte darauf, dass Joy, May, Vern und ich Schwarz tragen - kein chinesisches Weiß. Wir sagen Dankgebete für das Geschenk, Sam gekannt zu haben, beten um Vergebung und Segen für die Lebenden und um Gnade für alle. Es gibt keine Blaskapelle, sondern Bertha Hom spielt auf der Orgel »Amazing Grace«, »Nearer, My God, to Thee« und »America the Beautiful«. Dann gibt es ein schlichtes, bescheidenes, trauriges Essen an fünf Tischen im Soochow - nur fünfzig Personen, sehr klein im Vergleich zu Vater Louies Beerdigung, kleiner sogar noch als Yen-yens Bestattung, eine Folge der Angst unter unseren Nachbarn, Freunden und Gästen. Man
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